18.05.2024

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Folge 13-23 vom 31. März 2023 / West-östliche Begriffsverwirrungen / Seit der Einheit von 1990 war es das Ziel westdeutscher Politiker, die „Ostdeutschen“ in die „westliche Wertegemeinschaft“ zu überführen. Damit verkannten sie das Selbstbewusstsein ihrer Landsleute – und zeigten eine Unkenntnis der eigenen Geschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13-23 vom 31. März 2023

West-östliche Begriffsverwirrungen
Seit der Einheit von 1990 war es das Ziel westdeutscher Politiker, die „Ostdeutschen“ in die „westliche Wertegemeinschaft“ zu überführen. Damit verkannten sie das Selbstbewusstsein ihrer Landsleute – und zeigten eine Unkenntnis der eigenen Geschichte
Eberhard Straub

Die Bundesrepublik ist der erste deutsche Staat, der sich nach Deutschland nennt, nach einem geographischen und kulturellen Begriff. Es gab aber immer Deutsche. Sie lebten die längste Zeit im Heiligen Römischen Reich, dann kurzfristig zwischen 1815 und 1866 im Deutschen Bund und anschließend im Deutschen Reich ab 1871 in dessen drei verschiedenen Gestalten. Sie verstanden sich vorzugsweise nach ihren Landschaften und Stämmen als Schwaben, Franken, Sachsen, Pommern oder Preußen, aber nie als West- oder Ostdeutsche. Die einzigen, die mit ihrem Namen auf ihren östlichen Lebensraum – ein Wort Goethes und nicht der Nationalsozialisten – hinweisen, sind die Österreicher, die allerdings höchst erstaunt wären, als Ostdeutsche behandelt zu werden. Ein tatsächlich immer wieder besprochener Unterschied war der zwischen Nord und Süd, wie bei den meisten Völkern in Europa. Die heute bis zum Überdruss betonte Teilung zwischen West und Ost hat nichts mit Geographie und Kultur zu tun, sondern mit Politik und westdeutscher Gedankenlosigkeit. 

Flucht aus der Geschichte 

Diese ist eine anhaltende Folge des Kalten Kriegs, der Europa jahrzehntelang in zwei ideologische Blöcke auseinanderriss. Schon früh sahen die Organisatoren der Bundesrepublik, in engster Absprache mit den westlichen Siegermächten, die besondere Würde ihres Deutschlands darin, „Westdeutschland“ zu sein, zum Westen als Heilgemeinschaft zu gehören, die materielle und geistige Werte schafft und verbreitet. Die deutsche Geschichte und Nation galten als wertlos, nachdem am 25. Februar 1947 die Sieger den Staat Preußen als den angeblichen Träger des Militarismus und der Reaktion verdammt hatten. Die Rechtfertigung der Bundesrepublik bestand darin, beflissen Preußen zu verscharren und sich damit von der Nation, wie sie unter Preußens Mitwirkung 1871 gebildet worden war, zu entfernen. Die Nation wurde zum auslaufenden Modell erklärt und „Nie wieder eine deutsche Nation“ zur Devise des neuen Rheinbundes, der um Bonn gescharten Einwohner von Trizonesien, der drei westlichen Besatzungszonen. 

Ein historisch-kultureller Begriff von Deutschland erübrigte sich unter solchen Voraussetzungen. Der Ratschlag Goethes und des Historikers Johannes von Müller unter dem Eindruck der fürchterlichen Niederlage Preußens im Jahre 1806, sich vertraut zu machen mit großen, vaterländischen Gedanken und alles zu verbannen, was den Aufschwung lähmt, wurde nicht weiter beachtet.

Der Westen galt nun als die rettende Idee, die Aufschwung verhieß. Im Westen, als Wunder und Segnungen verheißender Macht, erlösten sich die Westdeutschen von Deutschland und dem Fluch, ein Deutscher zu sein. Sie reisten kreuz und quer durch Westeuropa, trieben Allotria bei Speis und Trank und kamen sich dabei ungemein westlich und westeuropäisch vor. Was sie stolz machte, war die Deutsche Mark. Wertbewusst, wie sie geworden waren, verhehlten sie ihren Stolz auf diesen Wert überhaupt nicht, der sie viele Verluste vergessen machen sollte. Eine Vorstellung von Deutschland, deutscher Geschichte und deutscher Kultur verdunstete rasch, was bei der allseits betriebenen Erziehung zur Verwestlichung nur begrüßt werden konnte. Die Lustlosigkeit, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen oder sie in „transnationale Modelle“ einzufügen, sollte allerseits beruhigend wirken, dass Westdeutsche keine Revanchisten sind und wahre Menschen unter den Mitmenschen im Westen sein wollten.

Die Westdeutschen waren seitdem nur noch Europäer. Sie waren jedoch die einzigen, die in diesem Europa keine Geschichte hatten, und deshalb auch keine Vorstellung von Europa, die mit den mannigfachen Geschichten und Verschiedenheiten des Kontinents zusammenhängt. Europa war für sie ein Einkaufsparadies mit „Grabbeltischen“ für Schnäppchenjäger. Statt der Geschichte gab es für die Westdeutschen nur „Vergangenheit“, die belästigte und durch unermüdliche Bewältigung vielen, sonst brotlos gebliebenen, Akademikern als gewissenhaften Orientierungshelfern bei der Verwestlichung ein paar Deutsche Mark und Anerkennung verschaffte. Auch die Vergangenheitsbewältigung und moralische Rüstungsindustrie erwies sich als dauernde Wachstumsbranche und als wertvoll. 

Der Schreck von 1989

In dieser Bonner Idylle mit ihren dem Lebensernst entgrenzten Räumen brach Panik aus, als im November 1989 aus der DDR ein Rückruf in die Geschichte und die Wirklichkeit erschall: „Wir sind ein Volk.“ Gerade das wollten die Westdeutschen unter gar keinen Umständen sein, die vielmehr gelernt hatten, dass Volk und Gemeinschaft „reaktionär“ und antiwestlich wären, und die sich daher als „Gesellschaft“ begriffen und an deren Strukturen bastelten.

Und was für ein Volk, was für Leute waren schon diese vom Westen nur ganz unzulänglich berührten Provinzler in der DDR? Sie waren so gar nicht weltläufig, waren unelegant, schreckenerregend geschmacklos, ganz und gar uneuropäisch, deutsch im trostlosesten Sinn. Wie weit hatten es doch die Bundesrepublikaner gebracht bei der zähen Bemühung, alle Spuren deutscher Unbeholfenheit hinter sich zu lassen und leicht und locker zu werden wie die westlichen Lebenskünstler! Mit denen dort drüben konnte man keinen Staat machen wegen des Mangels einer „Zivilgesellschaft“. In Leipzig und Dresden gingen aufgeregte Massen auf die Straßen, im Westen war man peinlich berührt. Besonnene Westdeutsche blieben zu Hause, statt mit Volksaufläufen lautstark eine Wiedervereinigung zu fordern. Das Verlangen nach nationaler Einheit oder Einigkeit beschränkte sich auf die DDR. In der Bundesrepublik gab es hingegen sogleich hektische Bemühungen, alte Besitzstände zu wahren und Westdeutschland vor Veränderungen zu schützen. In den offiziellen Beteuerungen äußerte sich vor allem die Angst „der Bonner“ um ihr Westdeutschland und vor einem anderen, neuen Deutschland.

Für sie gab es nur Westdeutschland. Sofern es überhaupt noch Deutsche geben sollte, deren Herz aber in europäischer Verantwortung schlagen müsse und im rhythmisch gleichen Takt mit der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft, dann konnten es nur Westdeutsche sein, andere Deutsche vermochte sich ein geistiger Bonner gar nicht vorzustellen. Eine Wiedervereinigung gleichberechtigter Teilstaaten aus den Überresten des Deutschen Reiches wurde von vornherein vermieden. Man sprach im Westen von Vereinigung zweier Staaten, als hätte es nie eine lange, gemeinsame Geschichte der Deutschen gegeben, von der sich allerdings die Westdeutschen beflissen verabschiedet hatten. 

Vereinigung ohne innere Einheit

Und so trat die DDR 1990 in die Bundesrepublik ein, die von nun an alles daransetzte, aus dem „Beitrittsgebiet“ einen Westen zu machen. Denn mit dem Beitritt der DDR wäre „Deutschland“ größer geworden, wie es immer wieder hieß. Ganz offensichtlich war die frühere DDR, immerhin ein deutscher Staat, kein Teil Deutschlands und konnte dazu nur unter westdeutscher Anleitung werden. Damit begannen die Schwierigkeiten, dass es zwar eine erweiterte Bundesrepublik gibt, aber kein „Deutschland, einig Vaterland“.

Unter welchem Namen ließ sich die frühere DDR in die BRD integrieren? „Beitrittsgebiet“ galt selbst Bürokraten als allzu prosaisch, außerdem verdeutlichte dieser Ausdruck ganz unverhohlen, dass die Beigetretenen und alsbald Betretenen sich zu fügen und sich einzupassen hatten. Bonner schlugen deshalb vor, von „jungen“ oder „neuen Ländern“ zu reden. Allerdings waren Thüringen, Sachsen, Mecklenburg oder Brandenburg alte, ehrwürdige deutsche Länder und Herrschaften. Dort war und ist man stolz auf die eigene Geschichte und hielt es für blanken Hohn, als junge und noch nicht reif gewordenen Länder allmählich erwachsen werden zu sollen unter Anleitung westdeutscher Entwicklungshelfer, die sie verwestlichen und zu Westdeutschen umerziehen sollten. 

Goethe hatte nach der Auflösung des alten Reiches sowie der Katastrophe Preußens und Norddeutschlands 1806 gemahnt, mit einer geistigen Bewegung auch im besetzten Land Mut und Kraft zu gewinnen, um später zu einer neuen, jedoch den Zusammenhang mit der Geschichte wahrenden Form deutscher Einigkeit zu finden. Er erinnerte an die Bedeutung Leipzigs, Dresdens, Jenas und Weimars für das gesamte Deutschland vor dem großen Zusammenbruch und war sich sicher, dass von dort aus, wie früher, wichtige Anregungen kommen würden, um sämtliche Deutsche aus der Resignation zu befreien und zu befähigen, aufgrund geistiger Gemeinsamkeiten auch wieder zu politischer Eintracht zu gelangen. Solche historisch-kulturellen Überlegungen lagen den Westdeutschen ganz fern. Die Vereinigung durfte schließlich keine das Gemüt beschäftigende Angelegenheit sein, sondern war für sie eine Frage der Finanzierung, der Kosten und des Nutzens. 

Die Erfindung „Ostdeutschlands“

Das Gebiet war heruntergewirtschaftet, eben verrottet wie alles im Ostblock. Es musste vollständig entkernt und umgebaut werden, um es dem Erfolgsmodell Deutschland anzupassen, das die Bundesrepublik so liebenswürdig und weltoffen verkörperte. Der Ostblock war in Europa verschwunden, und in der erweiterten Bundesrepublik kam es zu einem Ostblock wegen westlicher Geschäftigkeit. Was einst die „Ostzone“ war, lebte nun als „Osten“ oder „Ostdeutschland“ auf, und die westdeutschen Sinnstifter und Entwicklungshelfer merkten rasch, dass sie lange und viel zu tun haben würden. 

Vor allem beunruhigte es Westdeutsche sehr, dass die „Ostdeutschen“ sich einfach als Deutsche begriffen und überhaupt nicht einsehen wollten, was daran verkehrt sein sollte. Die Erbepflege war nie vernachlässigt worden, also die Kultur und deren Zeugnisse mit dem Sozialismus in Verbindung zu halten. Weimar und die Goethezeit waren in der DDR immer wieder beschworen worden, um dem sozialistischen Deutschland eine umfassende Rechtfertigung zu verleihen über die Philosophie von Hegel, Marx und Engels hinaus, die ja keineswegs ein Ostprodukt war. Internationalismus und zu ihm gehörenden Humanismus brauchten die sogenannten „Ostdeutschen“ nicht erst zu lernen. Deshalb erkannten sie auch keinen Vorzug darin, Westdeutsche zu werden. Sie wollten bleiben, was sie waren – nämlich Deutsche mitten in Europa. 

Es waren die Westdeutschen, die Deutschland nach 1989/90 spalteten. Als Mängelwesen erwies sich weniger der ungehobelte 

„Ossi“, sondern allzu oft der phantasielose Westdeutsche, der in seiner westlichen Wertegemeinschaft gefangen nur sich und seinesgleichen anerkennt, unvertraut mit der Geschichte der eigenen deutschen Nation – sowie auch der Geschichte Europas. 






Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören „Kaiser Wilhelm II. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne“ (Landt Verlag 2012) sowie „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (Klett-Cotta 2014).

www.eberhard-straub.de