18.05.2024

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Folge 14-23 vom 06. April 2023 / „Ich sehe keine Strategie, die zur Beendigung des Krieges führen könnte“ / Über die jüngsten Entwicklungen des Ukrainekriegs, die Gefahr einer Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen sowie die fehlende Suche nach politischen Lösungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-23 vom 06. April 2023

„Ich sehe keine Strategie, die zur Beendigung des Krieges führen könnte“
Über die jüngsten Entwicklungen des Ukrainekriegs, die Gefahr einer Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen sowie die fehlende Suche nach politischen Lösungen
René Nehring

Im Gespräch mit General a.D. Harald Kujat

Droht ein Übergreifen des Kriegs im Osten auf andere Schauplätze? Während das Geschehen in der Ukraine stagniert, sorgen Aufrüstungsankündigungen der verschiedenen Parteien und kleinere Zwischenfälle für eine Eskalation des Konflikts. Zeit für eine nüchterne Analyse der Lage. 

Herr Kujat, in den letzten Tagen gab es mehrere besorgniserregende Meldungen: Der russische Präsident Putin kündigte die Verlegung taktischer Atomwaffen nach Weißrussland an. Großbritannien meldete, uranhaltige panzerbrechende Munition in die Ukraine liefern zu wollen. Und Norwegen berichtete von vermehrten Sichtungen russischer U-Boote vor seiner Küste. Droht der Ukrainekrieg nun auf andere Schlachtfelder überzugreifen?

Beginnen wir mit der Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Weißrussland. Präsident Putin hat erklärt, dass bereits Iskander-Raketen nach Weißrussland verlegt wurden, dass aber sowohl das Trägersystem als auch die Nuklearwaffen unter russischer Kontrolle bleiben. Außerdem erklärte er die Absicht, auch Nuklearwaffen nach Weißrussland zu verlegen, und dass bereits zehn weißrussische Flugzeuge so ausgerüstet wurden, dass sie nukleare Waffen einsetzen können. Putin sagte aber auch, dass dies im Grunde nichts Spektakuläres sei, da die US-Amerikaner in Mittel- und Westeuropa seit Jahrzehnten ähnlich agieren würden. Zum Beispiel in Deutschland, wo Nuklearwaffen gelagert werden, die von deutschen Flugzeugen und deutschen Piloten eingesetzt werden, aber unter amerikanischer Kontrolle bleiben. 

Diese Aussagen haben im Westen einige Wellen geschlagen. Ich bewerte den Schritt jedoch nicht als eine unmittelbare Eskalation. Denn schon jetzt könnte Russland von Königsberg aus praktisch die gleichen Ziele erreichen wie mit den nun in Weißrussland stationierten Waffensystemen. Russland erweitert damit jedoch das Spektrum seiner nuklearen Optionen. Ich habe deshalb den Eindruck, dass der jetzige Schritt eher über den Ukrainekrieg hinaus zielt, weil Russland von einer längeren Konfrontation mit den Vereinigten Staaten ausgeht. Darauf bereitet sich auch die NATO vor. So werden nun erstmals amerikanische Streitkräfte dauerhaft in Polen stationiert. Der polnische Präsident Duda hatte im Oktober letzten Jahres sogar eine stärkere Beteiligung an der nuklearen Abschreckung der NATO gefordert. Nach der russischen Ankündigung, Nuklearwaffen in Weißrussland zu stationieren, hat die polnische Regierung ihre Bereitschaft bekräftigt, im Rahmen der nuklearen Abschreckung Verantwortung zu übernehmen.

Woher nehmen Sie die Zuversicht, in den jüngsten Schritten keine unmittelbare Eskalation zu sehen? 

Dagegen, dass es eine unmittelbare Eskalation gibt, spricht einiges. So hat etwa China, der wichtigste Verbündete Russlands, jede Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen verurteilt. Wobei das nicht nur auf Russland bezogen war, sondern auch auf die Ukraine, die zwischenzeitlich sogar einen präventiven Einsatz westlicher Nuklearwaffen gefordert hatte. 

Außerdem gab es in letzter Zeit mehrere Kontakte zwischen der amerikanischen und russischen Regierung, und zwar ganz speziell in Bezug auf das Risiko einer nuklearen Eskalation. Es gab Telefongespräche zwischen den Verteidigungsministern und den Generalstabschefs Russlands und der USA. Darin hat der russische Generalstabschef Gerassimow betont, dass Russland sich so verhalten wird, wie es seine Nuklearstrategie besagt. Diese sieht nur dann einen nuklearen Einsatz vor, wenn Russland mit Nuklearwaffen angegriffen wird, oder wenn bei einem konventionellen Angriff ein existentielles Risiko für das Land oder die russische Bevölkerung entsteht. 

Gebannt ist das Risiko einer nuklearen Eskalation damit natürlich nicht. Vieles hängt davon ab, wie der Krieg weiter verläuft – auch, wie sich der Westen dazu verhält. Die NATO-Staaten unterstützen die Ukraine mit immer weiteren Waffensystemen. Was der Westen jedoch nicht ersetzen kann, sind die personellen Verluste der Ukraine. Früher oder später kommt der Punkt, an dem die westlichen Waffenlieferungen die materiellen und vor allem die personellen Verluste der ukrainischen Streitkräfte nicht mehr ausgleichen können. Folgen dann unseren Waffen auch unsere Soldaten? Das wäre ein enormes Eskalationsrisiko und könnte eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland zur Folge haben. 

Ihre Bewertung der Lage klingt rational und nachvollziehbar. Aber können Sie verstehen, dass gerade die Stationierung russischer Waffensysteme in Weißrussland von der Ukraine als Bedrohung empfunden wird? Schließlich gehörte das Land zu den Aufmarschgebieten für den Krieg. 

Natürlich ist alles, was die Front auf der russischen Seite verstärkt, ein zusätzliches Risiko für die Ukraine. Wir sehen aber auch eine Zunahme der Konfrontation – im Westen würden wir sagen: „der Verteidigungsfähigkeit“ – auf unserer Seite. Wir haben eine Menge Soldaten verlegt – nicht so viele, wie eigentlich nötig wären, aber eine Menge – und zwar nicht nur nach Polen, sondern auch in die baltischen Staaten, nach Rumänien und Bulgarien. 

Jeder Schritt der einen Seite bedeutet natürlich aus Sicht der anderen eine Eskalation – und führt zu weiteren Schritten und diese wiederum zu weiteren Schritten … Deshalb sind jetzt neben der Steigerung unserer Verteidigungsfähigkeit auch Stimmen gefragt, die sagen: „Moment mal! Lasst uns ruhig miteinander reden und überlegen, wie wir eine Ausweitung oder weitere Eskalation des Konflikts verhindern und schließlich den Krieg beenden können!“ 

Wie ist die Lieferung uranhaltiger britischer Munition an die Ukraine zu werten? 

Die Geschosse dieser Munition enthalten abgereichertes Uran. Dadurch entsteht eine besondere Härtung und damit eine größere Durchschlagskraft und eine sofortige Entzündung in Panzern. Allerdings wissen wir aus Gutachten von vergangenen Einsätzen etwa auf dem Balkan, dass diese Munition auch schwere Folgewirkungen für die Zivilbevölkerung im Einsatzgebiet haben kann. Insofern finde ich es bedenklich, wenn die ukrainischen Streitkräfte Munition einsetzen, deren negative Auswirkungen die eigene Bevölkerung treffen können. 

Und wie deuten Sie die Sichtung russischer U-Boote vor Norwegen? 

Jeder Krieg wird nicht nur militärisch ausgetragen, sondern auch ökonomisch und publizistisch. Die Präsenz russischer U-Boote gehört zur dritten Kategorie. Auch die Vereinigten Staaten zeigen derzeit verstärkt Präsenz im hohen Norden, etwa durch B-52-Bomber. Über dem Schwarzen Meer gab es sogar einen Zwischenfall zwischen einem russischen Flugzeug und einer US-Drohne, der zu deren Absturz führte. Die Drohne wurde offenbar zur militärischen Zielaufklärung eingesetzt. Oft handelt es sich dabei auch um den Versuch der Einschüchterung des Gegners, und der eigenen Öffentlichkeit soll gezeigt werden, dass man einsatzbereit ist. Allerdings sind diese Provokationen brandgefährlich. Ein technisches Versagen oder menschliches Fehlverhalten kann jederzeit eine fatale Eskalation auslösen, die eigentlich nicht gewollt ist. 

Wie steht es um das Kriegsgeschehen in der Ukraine? Die Frontberichte klingen inzwischen nach Erich Maria Remarque, nur dass es diesmal nicht im Westen „nichts Neues“ gibt, sondern im Osten. 

In der Tat ähnelt die Situation dem Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs. Es finden wechselseitige Artillerie-Duelle statt, jedoch keine dynamischen Operationen. Das Gelände ist allerdings gegenwärtig noch nicht für mechanisierte Verbände geeignet. Ende April, Anfang Mai dürfte der Boden jedoch so weit trocken sein, dass der Einsatz schwerer gepanzerter Fahrzeuge möglich ist. 

Das Zögern der Ukrainer liegt auch daran, dass sie noch auf einen Teil der versprochenen westlichen Waffensysteme warten. Ihre Bestände sind weit von denen entfernt, die der ukrainische Generalstabschef als für größere Offensiven erforderlich bezeichnete. Zudem wird wegen des Stellungskrieges derzeit jeden Tag sehr viel Munition verschossen. Das führt dazu, dass nicht nur – wie in den Nachrichten ständig zu hören ist – den Russen die Munition ausgeht und auch nicht nur der Ukraine, sondern auch dem Westen. Der US-Generalstabschef Mark A. Milley erklärte dieser Tage dem Streitkräfteausschuss, dass der Ukraine-Konflikt zu einem unglaublich hohen Verbrauch an konventioneller Munition geführt habe, die bei einem Krieg zwischen den USA und Russland oder den USA und China fehlen würde. Es werde mehrere Jahre dauern, die Lücken aufzufüllen. 

Wie ist diese Aussage zu deuten? An den Mangel bei den europäischen Armeen hat man sich längst gewöhnt, aber dass auch die Amerikaner Engpässe haben, ist neu. 

In der Tat. Allerdings klingt Milleys Aussage für mich etwas anders als unsere Lage. Wir kannibalisieren die Bundeswehr ja schon seit längerer Zeit nach dem Motto: „Wir haben zwar nicht viel, aber das Wenige, das wir haben, geben wir gern ab.“ Milleys Aussage deute ich eher als Weckruf, der anzeigt, dass die Unterstützungsfähigkeit der US-Truppen nicht unendlich ist. Die Amerikaner haben inzwischen nicht nur bei der Artilleriemunition Fehlstände, sondern auch bei den HIMARS-Raketen. Wie weit ihre Bestände tatsächlich heruntergefahren sind, sagen sie natürlich nicht. Das wäre auch fahrlässig. 

Im November nächsten Jahres stehen in den USA wieder Präsidentenwahlen an. Die aussichtsreichsten Bewerber der Republikaner, Donald Trump und Ron DeSantis, stellen weitere Waffenlieferungen ihres Landes an die Ukraine offen infrage. Könnte sich damit schon bald das Zeitfenster für einen ukrainischen Sieg schließen? 

Durchaus. Das eigentliche Problem der USA ist jedoch, dass die Amerikaner bis heute keine Strategie, jedenfalls keine publizierte, haben, was sie eigentlich erreichen wollen, beziehungsweise, wie dieser Krieg enden soll. Wenn man einmal davon absieht, dass das erklärte Ziel die Schwächung Russlands als geostrategischer Konkurrent ist, damit man sich dem eigentlichen Rivalen zuwenden kann, der allein in der Lage wäre, die globale Vormachtstellung der USA zu gefährden – China. 

Die Unklarheit der US-Ziele ist für die Ukraine ein ernsthaftes Problem. Denn da nicht nur das ukrainische Militär am Tropf des Westens und insbesondere der USA hängt, sondern auch die Wirtschaft und damit die Zahlungsfähigkeit des Landes, würde sich beim Einstellen der westlichen Unterstützung umgehend die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Landes stellen. Spätestens dann bliebe nichts anderes übrig, als den Verhandlungsweg einzuschlagen. Und schon jetzt teilt die USA nicht mehr jedes Ziel der Ukraine. So sagte Außenminister Blinken unlängst, dass ein Angriff der Ukraine auf die Krim zu weit gehen würde. 

Sie haben wiederholt für Verhandlungen geworben und auch gesagt, dass Sie glauben, dass Präsident Putin dazu bereit wäre. Woher nehmen Sie die Zuversicht? 

Zum einen hat Putin bereits mehrfach erklärt, dass er zu Verhandlungen bereit ist. Im Dezember 2022 hat er sogar gesagt: „Ich bin bereit, mit jedem zu verhandeln, der an diesem Konflikt in irgendeiner Weise beteiligt ist.“ Damit meinte er die USA. Natürlich bedeuten solche Aussagen nicht, dass Putin auch tatsächlich verhandeln will. Allerdings hat es durchaus schon Gespräche zwischen Russland und der Ukraine gegeben. Und die Vereinigten Staaten haben selbst mit Russland über das „New START“-Abkommen verhandelt. Es ist also nicht so, dass man mit Russland nicht verhandeln könnte.

Leider haben beide Seiten in den letzten Monaten ihre Vorbedingungen für Friedensgespräche immer höhergeschraubt. So hat die Ukraine erklärt, nur dann verhandeln zu wollen, wenn die Russen zuvor vollständig abgezogen sind. Und die Russen haben durch die Annexion der Bezirke Donezk, Lugansk, Saporischschja  und Cherson Tatsachen geschaffen, die für die Ukraine inakzeptabel sind. 

Sehen Sie einen Ausweg aus dem Dilemma? 

Vermutlich lässt sich der Knoten nur durch eine externe Macht zerschlagen, die bislang nicht am Geschehen beteiligt war, und deren Einfluss groß genug ist, um beide Parteien zu bewegen. Eine solche Macht wäre zum Beispiel China, das als Russlands engster Bündnispartner gilt, aber auch zur Ukraine Kontakte hält. Deshalb habe ich auch die fast schon reflexartige westliche Ablehnung des chinesischen Zwölf-Punkte-Positionspapiers zur Beilegung des Konflikts für falsch gehalten. Wie kann es angehen, dass wir einerseits im UN-Sicherheitsrat zu Verhandlungen aufrufen, und auf der anderen Seite erklären, dass allein die Ukraine entscheiden soll, unter welchen Bedingungen diese Gespräche stattfinden sollen? Der chinesische Vorschlag fordert ausdrücklich dazu auf, die Anfang April 2022 abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen, also dort zu beginnen, wo man einer „friedlichen Lösung“ bereits sehr nahe war.

Können die Chinesen als Verbündeter Russlands auch ein „ehrlicher Makler“ sein, wie es Bismarck einst für das Deutsche Reich auf dem Balkan reklamiert hat? 

Natürlich sind die Chinesen – auch als globaler Gegenspieler der USA – nicht neutral. Aber sie befinden sich nicht in einem Konflikt mit der Ukraine und sie haben das nötige internationale Gewicht, um auf die Kriegsparteien einzuwirken. Hinter China steht zudem die gesamte BRICS-Organisation mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, die zusammen auf 40 Prozent der Weltbevölkerung und 25 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts kommen. Außerdem steht hinter China die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in die gerade Saudi-Arabien drängt. Das ist also ein Block, der größten geopolitischen Einfluss hat – und zwar nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich. 

Diese Macht bedeutet jedoch für die Vereinigten Staaten neben dem Ukrainekrieg eine weitere strategische Herausforderung, die noch einmal deutlicher wird, wenn man die heutige Situation mit den siebziger Jahren vergleicht. Damals stellten die USA unter Richard Nixon sowohl ein gutes Verhältnis zu China als auch zu Russland her – mit dem Ergebnis, dass ein Schulterschluss zwischen Moskau und Peking verhindert wurde. Heute befinden sich die USA mit beiden Mächten im Konflikt, was wiederum diese zusammenführt. Der Politologe Harlan Ullman, Professor an der US-Marine-Akademie in Annapolis und Entwickler der Strategie „Shock and Awe“ (Schrecken und Furcht), die im Irak-Krieg eingesetzt wurde, fragte deshalb besorgt, ob die USA einen vermeidbaren Fehler begangen haben, indem sie eine strategische militärische Zweifrontenkonfrontation gegen Russland und China eröffnet haben, eine tickende Zeitbombe. 

Wie ernst die Lage für die Amerikaner ist, zeigt auch ein Zitat von Admiral Charles A. Richard, von 2019 bis 2022 Befehlshaber des US Strategic Command, dem die strategischen Nuklearkräfte der Vereinigten Staaten unterstehen. Admiral Richard sagte wörtlich: „Diese Ukraine-Krise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Aufwärmen. Die große Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. Wenn ich den Grad unserer Abschreckung gegenüber China einschätze, dann sinkt unser Schiff langsam, aber es sinkt.“ 

Der Politologe Paul Kennedy hat in seinem Opus Magnum „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ den Begriff von der „imperialen Überdehnung“ geprägt, die im Laufe der Geschichte das Ende eines jeden Weltreichs eingeläutet hat. Stehen die USA an einem Wendepunkt der von ihnen eta-blierten Weltordnung? 

Wenn Sie sich ansehen, an wie vielen Krisenherden der Welt die Vereinigten Staaten Truppen stationiert haben, können Sie durchaus eine Überdehnung der Kräfte erkennen. 

Wie schätzen Sie den Kurs Deutschlands in diesem Konflikt ein? Bundeskanzler Scholz hat auf der einen Seite das enge Bündnis zu den USA auf eine Weise betont, wie es vermutlich nicht einmal die überzeugten Transatlantiker Helmut Schmidt und Helmut Kohl getan haben. Auf der anderen Seite pflegt Scholz ein ebenso enges Verhältnis zu China wie seine Vorgängerin Angela Merkel. Könnte das früher oder später zu einer Sollbruchlinie innerhalb des westlichen Bündnisses werden? 

Ihre Beobachtung ist korrekt. Und es verhält sich nicht nur Deutschland so, sondern auch Frankreich. Präsident Macron hat schon vor einiger Zeit eine europäische Agenda der Zusammenarbeit mit China verkündet. Offensichtlich fahren die Europäer in Bezug auf das „Reich der Mitte“ noch einen relativ unabhängigen Kurs, obwohl die Vereinigten Staaten sich darum bemühen, über die NATO einen engeren Schulterschluss der Europäer gegen China zu erreichen.

Was mich an der deutschen Politik stört, ist vor allem das Fehlen einer eigenen Strategie. Wenn wir erklären, die Ukraine muss entscheiden, wie lange sie Krieg führt und wann sie ihn beendet, und dass wir sie unterstützen, solange es nötig ist, dann überlassen wir der Ukraine die Entscheidung über elementare sicherheitspolitische Fragen unseres Landes.

Wir brauchen eine Strategie, weil wir bereits jetzt die Folgen dieses Krieges mitzutragen haben und weil dieser Krieg eine für unser Land schicksalhafte Entwicklung nehmen könnte. Deshalb ist die Bundesregierung in der Verantwortung, Fragen zu beantworten, wie: Welche militärischen und politischen Ziele der Ukraine ist die Bundesrepublik gewillt zu unterstützen? Unterstützen wir die Ukraine auch dann, wenn dadurch Gefahren für deutsche Sicherheitsinteressen entstehen können? Würden wir zum Beispiel die Eroberung der Krim unterstützen, obwohl dies zu einer gewaltigen Eskalation zwischen NATO und Russland führen könnte? Und in welchem Ausmaß ist die Bundesregierung bereit, durch Sanktionen verursachte langfristige, möglicherweise sogar irreversible Schäden der deutschen Volkswirtschaft zu akzeptieren? 

Das alles sind grundlegende Fragen mit schwerwiegenden Auswirkungen. Umso erschreckender, dass diese Fragen bei uns kaum diskutiert werden. Das Bundeskabinett hat in seiner letzten Klausur mehr als dreißig Stunden praktisch nur über ein Thema verhandelt: das Klima. Aber für die wesentlich größeren Konsequenzen für unser Land, die sich aus dem Ukrainekrieg ergeben können, war keine Minute Zeit. Ich halte es deshalb für eine sehr berechtigte Frage, weshalb die Bundesregierung nicht in der Lage ist zu erklären, in welchen durch die deutschen nationalen Sicherheitsinteressen gezogenen Grenzen die Unterstützung der Ukraine erfolgt.

Kriege werden zwar immer militärisch begonnen, aber nur durch politische Lösungen beendet. Sehen Sie bei irgendeinem Akteur den Ansatz für eine politische Lösung des Ukrainekriegs? 

Nein. Ich sehe derzeit weder die Bereitschaft zu einer politischen Lösung, noch sehe ich im Augenblick eine Strategie, die zur Beendigung des Krieges führen könnte. Was bleibt, ist die Hoffnung darauf, dass – wie ich es schon früher in dieser Zeitung sagte – alle Seiten möglichst bald erkennen, dass sie ihre politischen Ziele nicht mit militärischen Mitteln erreichen können, und deshalb auf einen Verhandlungskurs einschwenken. Ansonsten droht, um zum Ausgang dieses Gesprächs zurückzukommen, tatsächlich eine Ausweitung des bislang auf die Ukraine begrenzten Konflikts. 

Nach dem Ersten Weltkrieg fragte sich die Welt, wie es zu dieser „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ kommen konnte. Hoffentlich werden sich die Historiker nicht in einigen Jahren fragen müssen, wie der Ukrainekrieg zur Ur-Katastrophe des 21. Jahrhunderts werden konnte. 

Das Interview führte René Nehring.






General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.