Wenn es nach den Umfragen geht, dann muss Recep Tayyip Erdoğan davor zittern, am 14. Mai als türkischer Präsident wiedergewählt zu werden. Sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu könnte die Gunst der Stunde nutzen und Erdoğan nach 20-jähriger, nahezu autokratischer Herrschaft aus dem Amt jagen.
Massive Inflation, hohe Arbeitslosigkeit und vor allem das verheerende Erdbeben im Februar könnten am Ende für Kılıçdaroğlu das Zünglein an der Waage sein, um Erdoğan abzulösen. Baumängel der beim Erdbeben eingestürzten Häuser und die nur schleppend in Gang gebrachten Rettungsmaßnahmen könnten dem Amtsinhaber zum Verhängnis werden. Ein weiterer günstiger Umstand ist für Kılıçdaroğlu durch ein aus sechs Parteien geeintes Oppositionsbündnis entstanden. Da auch die prokurdische HDP auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten verzichtet, kann er auch auf die Stimmen der kurdischen Minderheit zählen.
Natürlich will Kılıçdaroğlu wie alle anderen Politiker Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfen. Das Versprechen gehört beim Wahlkampf zum guten Ton dazu. Andererseits versteht er als langjähriger Verwaltungsbeamter und früherer Chef der türkischen Sozialversicherungsbehörde genug von dieser Misswirtschaft. Politisch ist der aus Ostanatolien stammende Alevit ein Spätzünder. Im Jahr 2002, als der fünf Jahre jüngere Erdoğan erstmals die Präsidentschaftswahl gewann, zog der heute 74-jährige Kılıçdaroğlu für die sozialdemokratische CHP, deren Vorsitzender er seit 2010 ist, ins Parlament ein. Bekannt wurde er 2017 mit seinem „Marsch für Gerechtigkeit“, als er begleitet von Hunderten von Anhängern aus Solidarität für einen inhaftierten Parteifreund die 400 Kilometer von Ankara nach Istanbul zu Fuß lief und dabei einen von insgesamt drei Mordanschlägen auf ihn überlebte.
Auch wenn Kılıçdaroğlu im Präsidentschaftsrennen noch die Nase vorn hat – am Ende wird sich Erdoğan auf die Stimmen seiner Anhänger in Deutschland verlassen können. 1,5 Millionen mit türkischer Staatsangehörigkeit leben hier. Sie könnten das wahre Zünglein an der Waage sein (siehe auch Seite 4).
