18.05.2024

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Folge 19-23 vom 12. Mai 2023 / Geschichtspolitik / Wie NS und DDR deutsche Zentralarchive beeinflussten / Buchvorstellung und Diskussion in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-23 vom 12. Mai 2023

Geschichtspolitik
Wie NS und DDR deutsche Zentralarchive beeinflussten
Buchvorstellung und Diskussion in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Dirk Klose

Archive sind das Gedächtnis einer Nation. Sie sind darum auch nicht verstaubte oder weltfremde Einrichtungen. Immer wieder waren und sind sie staatlichen Zugriffen und Begehrlichkeiten ausgesetzt, sei es, dass man sich mittels Akten vor der Geschichte zu rechtfertigen suchte, sei es, dass etwas verheimlicht oder vertuscht werden sollte. 

Der Potsdamer Historiker Peter Ulrich Weiß hat unlängst ein Buch über die Entwicklung der Archive in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Seine Studie war jetzt Anlass für ein Gespräch in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin, an dem sich neben dem Autoren Anette Meiburg und Michael Hollmann vom Bundesarchiv sowie der Zeithistoriker Martin Sabrow als Moderator beteiligten. Für die Zuhörer war es ebenso spannend wie lehrreich, in den Archiven diktatorische und demokratische Herrschaftsverhältnisse gespiegelt zu sehen, mehr aber noch, über das Ethos von Archivaren – „diese Expertenkultur“ – zu erfahren. 

In Deutschland wurde 1919 das Reichsarchiv in Potsdam gegründet, nachdem der Frieden von Versailles den Großen Generalstab und damit dessen Heeresgeschichtliche Abteilung untersagt hatte. Schon damals spielten politische Beweggründe mit. Deutschland wollte die Unhaltbarkeit der alliierten Behauptung von der deutschen Alleinschuld am Weltkrieg beweisen, was sich in den 1920er Jahren in der vielzitierten Aktenedition „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914“ niederschlug. Der zwangsläufig konservative Charakter von Archiven färbte, so zeigt es Weiß in seiner Studie, zwangsläufig auch auf die Beschäftigten ab: „Natürlich war das Reichsarchiv später eine NS-Behörde, aber im Innern gab es doch ein merkliches, den Idealen des preußischen Beamtentums verpflichtetes Beharrungsvermögen.“ 

Das setzte sich, als bereits 1945 wieder in Potsdam ein „Zentralarchiv“, später das „Zentralarchiv der DDR“, gegründet wurde, auch dort fort. Das Archiv mit seiner Zentrale in Potsdam und Außenstellen in Merseburg und Coswig galt bis etwa 1960 als eine Art bürgerliches Refugium, was übrigens auch Meinung der SED war, die missliebige Funktionäre wie etwa das hohe Parteimitglied Karl Schirdewan dorthin abschob. 

Nach dem Mauerbau änderte sich das allerdings. Die Staatssicherheit reglementierte immer stärker alle Arbeitsabläufe. Die bei Archiven üblichen Anfragen von auswärts wurden rigoros eingeschränkt, solche aus dem Westen zur Hälfte abgelehnt. Zudem wurden in Potsdam nicht mehr als zehn, in Merseburg nur sieben Akten pro Tag ausgegeben, jeder Westbesucher hatte zudem einen „Betreuer“. Erst gegen Ende der 1980er Jahre wurde diese Praxis etwas liberaler.

In der Bundesrepublik wurde 1952 das Bundesarchiv in Koblenz gegründet, das anfangs dem Innenministerium unterstand, heute dem von Claudia Roth geführten Kulturministerium. Das Bundesarchiv hat sich zu einer umfangreichen Behörde entwickelt. Nach und nach hat es alle größeren Archive auf Bundesebene integriert beziehungsweise vereinnahmt: das DDR-Archiv in Potsdam, das Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth, das Militärarchiv in Freiburg, die frühere Auskunftsstelle für Wehrmachtsangehörige in Berlin-Reinickendorf, die Erinnerungsstätte für deutsche Freiheitsbewegungen in Rastatt, die NS-Verbrechensahndung in Ludwigsburg und das Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin mit Dependancen in allen ehemaligen DDR-Bezirkshauptstädten. Koblenz blieb Zentrale, aber in Berlin-Lichterfelde wurden die großen Räumlichkeiten der früheren Hauptkadettenanstalt für die Unterbringung immenser Materialien genutzt, wofür inzwischen noch ein Magazingebäude errichtet wurde. 

Nach den Worten des Bundesarchivpräsidenten Hollmann kam es nach der friedlichen Revolution zwischen den Archivaren aus Ost und West zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Schon im Sommer 1990 wurde bei gegenseitigen Besuchen überlegt, gemeinsame Findbücher anzulegen, um eine Vereinheitlichung des Archivwesens zu erreichen. 

Heute ist das Bundesarchiv das alleinige große Archiv auf Bundesebene. Seine Zahlen sind imponierend: 430 Kilometer Schriftgut, 13 Millionen Bilder, 160.000 Filmtitel und rund zwei Millionen Karten, Plakate und Pläne. All das zusammen spiegelt Politik und Gesellschaft in Deutschland. Selbstbewusst sagen Archivare: „Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt.“

Peter Ulrich Weiß: „Deutsche Zentralarchive in den Systemumbrüchen nach 1933 und 1945“, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, gebunden, 584 Seiten, 48 Euro