19.05.2024

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Folge 20-23 vom 19. Mai 2023 / Völkerrecht / Zwischen Weltgericht und Siegerjustiz / Für die Jugoslawienkriege gab es auch einen internationalen Gerichtshof. Vor 30 Jahren wurde dieser durch den UN-Sicherheitsrat geschaffen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-23 vom 19. Mai 2023

Völkerrecht
Zwischen Weltgericht und Siegerjustiz
Für die Jugoslawienkriege gab es auch einen internationalen Gerichtshof. Vor 30 Jahren wurde dieser durch den UN-Sicherheitsrat geschaffen
Björn Schumacher

Vor drei Jahrzehnten, am 25. Mai 1993, wurde der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) gegründet. Das Ad-hoc-Gericht im niederländischen Den Haag wurde zwar am 31. Dezember 2017 aufgelöst, doch hat es zusammen mit dem von 1994 bis 2015 bestehenden Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (IStGHR) in dem 2010 gegründeten Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (IRMCT) einen bis heute bestehenden Rechtsnachfolger. Der 30. Jahrestag der IStGHJ-Gründung liefert den Anlass einer historischen Würdigung und Einordnung.

Bis weit in die Neuzeit hinein war das Recht eine exklusive Angelegenheit begrenzter Territorien. Gerichte konstituierten sich per Staatsakt. Hugo Grotius’ vom Schrecken des Dreißigjährigen Krieges geprägtes Werk „De jure belli ac pacis“ (Über das Recht von Krieg und Frieden) aus dem Kriegsjahr 1625 beschrieb kein Völkerrecht im modernen Sinne, sondern naturrechtliche Debatten über den „gerechten Krieg“ (bellum iustum). Prägend wurde die Unterscheidung zwischen dem „Recht auf Krieg“ (ius ad bellum) und dem „Recht im Krieg“ (ius in bello). Letzteres formte – in Gestalt von Schutznormen für Zivilisten und Kriegsgefangene – das erste große Vertragswerk des Völkerrechts: die Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907.

Leider vermochte die HLKO die Gräuel beider Weltkriege kaum einzudämmen. Einen Strafenkatalog für verbotene Militäraktionen und Übergriffe enthielt sie ebenso wenig wie Vorschriften über ein Tribunal zur Aburteilung der Täter. Nicht nur deshalb weigerten sich die Niederlande 1919, den geflüchteten Deutschen Kaiser Wilhelm II. als „Kriegsverbrecher“ an die Entente-Mächte auszuliefern.

Der Zweite Weltkrieg änderte alles. Die alliierten Mächte, darunter das militärisch besiegte Frankreich, stampften ein Statut für einen Internationalen Militärgerichtshof (IMG) aus dem Boden, das Fundament des Nürnberger (Hauptkriegsverbrecher-)Prozesses gegen NS-Größen sowie ranghohe deutsche Militärs und Wirtschaftsführer. Ihnen wurden Kriegsverbrechen im engeren Sinne (ius in bello), Verbrechen gegen den Frieden (Verstöße gegen das ius ad bellum) sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.

Einäugigkeit Nürnbergs

Aus klassischer rechtlicher Perspektive bleibt der Prozess zwiespältig. Zwar durften schwerste NS-Verbrechen nicht ungesühnt bleiben, rechtsstaatliche und -ethische Aspekte hätten dennoch entschiedener beachtet werden müssen. Umfassende Gerechtigkeit durch die Ahndung beiderseitiger Kriegsverbrechen strebten Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin zu keiner Zeit an. Weder akzeptierten die Großen Drei nichtalliierte Richter und Ankläger noch schufen sie Parallelstatuten zur Aufarbeitung sowjetischer, britischer und US-amerikanischer Kriegs- und Nachkriegsexzesse. 

Ohnehin fragt sich, warum die Bestrafung kapitalen NS-Unrechts nicht dem − nach heutiger Geschichtspolitik − „befreiten“ Deutschland überlassen wurde. Zwar wären die Verfahren in den Besatzungszonen unter alliierter Kontrolle abgelaufen, Richter und Staatsanwälte hätten sich aber auf die bewährten, Rechtssicherheit schaffenden Kodifikationen des Strafgesetzbuchs (StGB) und der Strafprozessordnung (StPO) stützen können. Allerdings hatten die Sieger nach dem Ersten Weltkrieg mit einem entsprechenden Prozedere insofern schlechte Erfahrungen gemacht, als ihnen die von deutschen Gerichten über Deutsche gefällten Urteile nicht hart genug waren.

Zum eigentlichen Quantensprung des humanitären Völkerrechts wurde die Gründung der Vereinten Nationen (UN) mitsamt ihren Organen. Zahlreiche internationale Abkommen schufen nach 1945 ein dichtes Netz von Rechtsquellen, die dafür sorgten, dass der völkerrechtliche Wildwuchs von „Nürnberg“ in späteren Prozessen spürbar eingedämmt werden konnte. 

Den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien schuf der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 827. Seine Zuständigkeit erstreckte sich auf folgende in den Jugoslawienkriegen seit 1991 begangene Straftaten: schwere Verletzungen der Genfer Konventionen, Verstöße gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ausgeklammert blieb die Verfolgung von Straftaten im Kosovokrieg 1999/2000. 

Dem IStGHJ gehörten 16 ständige und 27 sachkompetente, vorübergehend zugeordnete Ad-litem-Richter an, die sich auf drei erstinstanzliche Strafkammern und eine Berufungskammer verteilten. 14 der ständigen Richter wurden von der Generalversammlung der UN gewählt, die beiden übrigen vom IStGHJ-Präsidenten in Abstimmung mit dem Präsidenten des IStGHR ernannt. Der Anklagebehörde stand ein vom UN-Generalsekretär vorgeschlagener und vom Sicherheitsrat ernannter unabhängiger Chefankläger vor.

Selenskyj will auch einen für Putin

Verfahren wurden nur gegen anwesende Angeklagte geführt. Die jeweils drei Richter aller Kammern entschieden nach dem Mehrheitsprinzip. In Betracht kam nur Freiheitsentzug; sowohl Zeitstrafen als auch lebenslange Haftstrafen wurden verhängt. Letzteres traf etwa die bosnischen Serben Radovan Karadžić, Präsident der Republika Srpska 1992 bis 1995, und Ratko Mladić, Oberbefehlshaber der Republika Srpska, die Massaker an muslimisch-bosnischen Zivilisten in Sarajewo und Srebrenica mit 8000 Opfern angeordnet hatten. Prominentester Angeklagter war der 2006 vor Prozessende verstorbene Präsident Serbiens von 1989 bis 1997 und Jugoslawiens 1997 bis 2000, Slobodan Milošević.

Kritik entzündete sich an unbestimmten Formulierungen der UN-Charta, die der Errichtung des Jugoslawien-Tribunals zugrunde lagen und einer gewissen Beliebigkeit der in Den Haag praktizierten Verfahrensregeln. Von Juristen gerügt wurden auch das Fehlen unabhängiger völkerrechtlicher Kontrolle und die als politisch einseitig empfundenen Anklagen. Hinweise auf Kriegsverbrechen der NATO-Mitgliedstaaten seien ignoriert worden, lautete ein Vorwurf. Umstritten ist, ob sich der IStGHJ von der strukturellen Einäugigkeit des Nürnberger Prozesses hat lösen können.

Bekennender Anhänger dieses Prozesses ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er fordert ein Ad-hoc-Tribunal nach Nürnberger Vorbild für den Krimkrieg. Die Frage, warum das nicht der 2002 ebenfalls in Den Haag errichtete (ständige) Internationale Strafgerichtshof übernehmen solle, ist rasch beantwortet. Dieses Haager Tribunal untersteht nicht den Vereinten Nationen. Die ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder China, Russland und USA sind seinem Gründungsstatut nicht beigetreten. Wer den russischen Präsidenten Wladimir Putin anklagen und verurteilen will, braucht ein weiteres Sondergericht.