18.05.2024

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Folge 22-23 vom 02. Juni 2023 / „Die Europäisierung des Krieges schreitet Schritt für Schritt voran“ / Über die erwartete ukrainische Großoffensive, die Debatte um die Lieferung von F16-Kampfjets und die Unwahrscheinlichkeit eines nahen NATO-Beitritts der Ukraine

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-23 vom 02. Juni 2023

„Die Europäisierung des Krieges schreitet Schritt für Schritt voran“
Über die erwartete ukrainische Großoffensive, die Debatte um die Lieferung von F16-Kampfjets und die Unwahrscheinlichkeit eines nahen NATO-Beitritts der Ukraine
René Nehring

Im Gespräch mit General a.D. Harald Kujat

Die Lage im Ukrainekrieg ist unübersichtlich. Während eine Stadt im Donbass seit Wochen die Nachrichten bestimmt und die Welt gespannt auf eine ukrainische Gegenoffensive wartet, erklärt die NATO, Kampfjets in das Kriegsgebiet liefern zu wollen, ohne jedoch konkret zu werden. Zeit, mit einem Experten, der die ukrainische und die russische Armee ebenso kennt wie die NATO-Streitkräfte, ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen. 

Herr Kujat, lassen Sie uns zunächst über die Stadt Bachmut reden, deren Schicksal sinnbildlich für den gegenwärtigen Stand des Ukrainekriegs steht. Einerseits hören wir ständig, dass die Russen zurückweichen. Dann jedoch sagt der ukrainische Präsident Selenskyj, Bachmut bestehe nur noch in den Herzen seiner Landsleute. Die Informationen auf russischer Seite sind ähnlich verworren. Da verkündet der Chef der „Wagner“-Söldner, Jewgenij Prigoschin, einerseits die Einnahme der umkämpften Stadt, auf der anderen Seite klagt er seine Regierung für die katastrophale Lage vor Ort an. Wie bewerten Sie dies? 

Die Frage ist ja: Welche Ziele haben Russland und die Ukraine in Bachmut verfolgt? Und warum war es für beide Seiten so schwierig, die Oberhand zu gewinnen? Kämpfe in Ortschaften sind stets äußerst schwierig und verlustreich. In Bachmut wurde zum Teil in Hochhäusern gekämpft, in denen beide Kriegsparteien gleichzeitig saßen. 

Dass überhaupt so verbissen um die Stadt gekämpft wurde, liegt weniger an der strategischen als an der symbolischen Bedeutung für die Kriegsparteien. Die Ukrainer haben versucht zu demonstrieren, dass sie standhaft gegenüber der russischen Aggression sind, weil davon die westliche Unterstützung wesentlich abhängt. Nur dann, wenn die westliche Hilfe auch dazu beiträgt, dass die Ukraine Erfolge verzeichnen kann, ist sie auch weiterhin gewährleistet.

Der russischen Seite ging es hingegen darum, so viel ukrainische Streitkräfte zu binden und auszuschalten wie nur möglich, um deren Kampfkraft in der seit Wochen angekündigten Großoffensive zu reduzieren. 

In gewisser Weise haben beide Seiten „Erfolg“ gehabt. Die Ukraine hat erreicht, dass die westliche Unterstützung weiter anhält. Und Russland hat den ukrainischen Streitkräften, die sich insgesamt in einem kritischen Zustand befinden, in Bachmut erhebliche Verluste zugefügt. 

Worin drückt sich das aus?

Aktuell hören wir nur Meldungen über die Erfolge der Ukraine und die Stärke ihrer Streitkräfte. Richtig ist, dass diese durch die Ausbildung nach NATO-Standards und westliche Waffenlieferungen erheblich an Kampfkraft gewonnen haben. Ebenso richtig ist aber auch, dass die Ukraine seit Kriegsbeginn einen hohen Blutzoll zahlt und die geplante Großoffensive weitere erhebliche Verluste fordern wird.  

Seit einiger Zeit werden von beiden Seiten örtlich begrenzte Vorstöße unternommen. Hinzu kommt, dass Russland offenbar fast täglich Angriffe auf Munitionsdepots, Treibstofflager und Führungsstäbe in der Nähe der Front sowie zunehmend auf Flugplätze durchführt. Auch Depots im Hinterland werden angegriffen, wo westliche Waffen und Munition ankommen, die von dort verteilt werden. Dadurch versucht Russland anscheinend, die Offensiv- und Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Streitkräfte so weit wie möglich zu schwächen, um aus der strategischen Defensive zum Gegenstoß anzusetzen, sollte die ukrainische Offensive ins Stocken geraten.

Die erwartete ukrainische Großoffensive war neben der Lage in Bachmut eines der großen Themen der letzten Wochen. Manche Medien haben deren Beginn bereits gemeldet, andere sind zurückhaltender. 

Dazu gibt es unterschiedliche Informationen. Von ukrainischer Seite hieß es kürzlich, die Offensive habe schon begonnen. Die stellvertretende US-Außenministerin Nuland erklärte dagegen, die Offensive sei seit etwa vier bis fünf Monaten von den USA mit vorbereitet worden und wahrscheinlich zeitgleich mit dem NATO-Gipfel am 11./12. Juli in Litauen geplant. 

Für die Ukraine hat diese Offensive eine große Bedeutung. Zumindest ein Teilerfolg wäre wichtig, denn scheitert sie vollständig, gibt es auf lange Zeit keine zweite Chance. Allerdings hält man es derzeit in Washington für unrealistisch, dass es gelingen könnte, die Russen vollständig aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen. Deshalb ist wohl davon auszugehen, dass die ukrainischen Streitkräfte versuchen werden, bis zur Landbrücke zwischen Russland und der Krim vorzustoßen, um die Krim zu isolieren. Zugleich käme die Kertsch-Brücke, die dann verbliebene Verbindung mit Russland, in die Reichweite der ukrainischen Waffen. Die Krim hat als Drehscheibe für die Unterstützung und Versorgung der russischen Angriffsverbände strategische Bedeutung. Ein Erfolg der 

Ukraine würde zudem die weitere Unterstützung des Westens sicherstellen.

In diesem Zusammenhang sollte der strategische Vorteil Russlands erwähnt werden, dass die russischen Streitkräfte mit Drohnen und hochmodernen Marschflugkörpern über große Distanzen von zweieinhalb- bis dreitausend Kilometern angreifen können. Die 

Ukraine kann die Marschflugkörper zwar im Endanflug bekämpfen, verfügt aber nicht über die Möglichkeit, die Abschussanlagen tief im russischen Hinterland zu zerstören. Dafür versucht Kiew seit Monaten, vom Westen weitreichende Waffensysteme zu erhalten. Doch die amerikanische Regierung hat das bislang verweigert. Die gelieferten Mehrfachraketenwerfer HIMARS wurden nur mit Munition ausgestattet, deren Reichweite etwa 80 Kilometer beträgt, nicht die mit einer Distanz von 300 Kilometern. Die amerikanische Regierung will verhindern, dass mit ihren Waffen und ihrer Munition russisches Kernland angegriffen wird, um eine direkte Konfrontation mit Russland zu vermeiden. 

Halten Sie es für möglich, dass es gar nicht erst zu der großen ukrainischen Offensive kommen wird? 

Ich denke, sie müssen es wagen. Präsident Selenskyj hat ja auch zu Beginn dieser Woche erklärt, dass der konkrete Zeitplan dafür feststehe. Die ukrainischen Streitkräfte könnten zwar nicht auf breiter Front angreifen. Aber sie könnten mit den zwölf in NATO-Ländern, darunter Deutschland, gut ausgebildeten und ausgerüsteten Brigaden einen Schwerpunkt bilden, in dem ihnen ein Durchbruch durch die tief gestaffelten russischen Verteidigungsstellungen gelingt. 

Fraglich ist allerdings, ob sie in der Lage wären, genügend gut ausgebildete und ausgerüstete Kräfte nachzuführen, um einen Anfangserfolg auszubauen und erobertes Gelände zu halten. Die Personallage der ukrainischen Streitkräfte ist kritisch. Ihre hohen Verluste werden überwiegend durch kurz ausgebildete Soldaten ohne Kampferfahrung ausgeglichen. Sollten die Ukrainer ihre Offensivkraft im Verlauf der Offensive einbüßen, könnte sich das Blatt sehr schnell wenden und die russischen Streitkräfte die Initiative übernehmen. Dann wäre es für die Ukraine sehr schwierig, einen russischen Gegenangriff abzuwehren.

Das heißt, eine Offensive könnte schnell zum Boomerang werden? 

In der Tat. Die Russen haben sich offensichtlich zur strategischen Defensive entschlossen. Sie warten den Beginn der ukrainischen Offensive ab und ergreifen die Gelegenheit, falls sich diese festfährt, um selbst zum Gegenangriff überzugehen. Wenn die erwartete ukrainische Offensive scheitern sollte, gäbe es wahrscheinlich keine zweite Chance, die russischen Angreifer aus dem Land zu vertreiben. Daher rührt auch die Skepsis in Washington und selbst in Kiew.

Ein großes Thema der letzten Wochen war auch die Lieferung westlicher Kampfjets an die Ukraine. Nach langer Zurückhaltung haben die USA dem nun zugestimmt. Zugleich haben sie jedoch klargemacht, dass sie selbst keine Jets liefern werden. 

Ja, das stimmt. Der Hauptgrund für die amerikanische Zurückhaltung ist die von Präsident Biden verkündete Doktrin, keine Waffen zu liefern, mit denen die Ukraine in der Lage wäre, russisches Kerngebiet anzugreifen, wodurch dann die Gefahr bestünde, dass die USA selbst und/oder die NATO in den Krieg hineingezogen würden. Ein weiterer Grund ist aber auch, dass Russland über eine sehr starke, integrierte Luftverteidigung verfügt. 

Die Kampfjet-Debatte ruft in Erinnerung, dass der Luftkrieg, der in modernen Kriegen eigentlich eine zentrale Rolle spielt, in der Ukraine bislang kaum stattfindet. 

Es finden durchaus Einsätze der Luftstreitkräfte statt, von russischer Seite insbesondere zur Unterstützung der Bodentruppen. Aber richtig ist, dass bislang kein Luftkrieg stattfindet, in dem beispielsweise von Jagdflugzeugen begleitete Bomber Flächenbombardements ausführen, die von der bodengestützten Luftverteidigung und Abfangjägern abgewehrt werden. Die russischen Luftstreitkräfte sind nicht darauf angewiesen, ihre Flugzeuge in die Reichweite der ukrainischen Luftverteidigung zu schicken. Sie verfügen über geeignete Abstandswaffen wie Gleitbomben, Marschflugkörper und Hyperschallwaffen, die nur sehr schwer bekämpft werden können. Die ukrainische Luftverteidigung hat zwar sehr leistungsfähige westliche Systeme erhalten und ist damit auch erfolgreich, hat jedoch inzwischen auch Verluste zu verzeichnen. 

Was könnten westliche Kampfjets für die Ukrainer bringen?

Bislang galt jedes neue Waffensystem, das die Ukraine bekam, als „Gamechanger“. Das war bei den HIMARS-Raketen so, dann bei den Schützenpanzern wie dem Marder und auch bei Kampfpanzern wie dem Leopard 2. Auch jetzt hat sich der ukrainische Präsident überzeugt gezeigt, mit F-16-Kampfflugzeugen schon bald einen Sieg erringen zu können. Ohne die westlichen Waffensysteme wäre die Ukraine nicht in der Lage sich zu verteidigen. Aber die strategische Gesamtlage haben sie nicht verändert. Und das werden die F-16 auch nicht.

Immer, wenn die Lage für die Ukraine kritisch ist, wird die Eskalationsschraube durch die Forderung nach noch leistungsfähigeren Waffensystemen weitergedreht. Und immer wieder haben die europäischen NATO-Staaten ihre roten Linien überschritten, während die Vereinigten Staaten sich weitgehend an die von Präsident Biden erklärten Beschränkungen halten. Die Europäisierung des Krieges schreitet Schritt für Schritt voran, mit Deutschland an der Tête. Bereits ein Scheitern der angekündigten Großoffensive könnte die ukrainischen Streitkräfte in eine Lage versetzen, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können. Wird dann als nächste Eskalationsstufe das Eingreifen der NATO gefordert?

Übrigens ist noch nicht klar, wie viel und von wem F-16 geliefert werden, sowie um welche Version es sich mit welcher Bewaffnung handelt. Wir wissen auch nicht, wie die Ukraine die Flugzeuge einzusetzen beabsichtigt – zur Unterstützung der Bodentruppen, im Verbund mit den bodengestützten Luftverteidigungssystemen oder zur Ausschaltung russischer Waffensysteme tief im russischen Kernland. Angeblich hat die Ukraine gegenüber den USA die feste Zusicherung gegeben, Letzteres nicht zu beabsichtigen. Da die F-16 nicht über eine Tarnkappentechnik verfügt, wären die Flugzeuge gegenüber der sehr effektiven russischen Luftverteidigung allerdings sehr verwundbar.

Hinzu kommt, dass die Ausbildung der Flugzeugführer eine erhebliche Zeit dauert, insbesondere im Hinblick auf die Fähigkeit zum Kampfeinsatz in den verschiedenen Varianten. Auch die Ausbildung des Wartungs- und Instandsetzungspersonals und der Aufbau der Boden- und Logistikorganisation dauert viele Monate, wenn nicht Jahre.

In der Öffentlichkeit für Furore gesorgt haben in den letzten Wochen Meldungen über diverse Aktionen auf russischem Gebiet. Gleich mehrfach wurden Drohnenangriffe auf Moskau gemeldet, davon einer gegen den Kreml. Und bei Belgorod gab es sogar auf dem Boden Anschläge vermeintlicher russischer oppositioneller Kämpfer gegen russische Einrichtungen. Wie bewerten Sie diese Aktionen? Wer steckt dahinter – und was bringen sie? 

Anschläge wie der bei Belgorod sind für Russland politisch unangenehme Nadelstiche, machen jedoch militärisch wenig Sinn. Sie sollen zeigen, dass Russland verwundbar ist. Und möglicherweise zwingen derartige Einsätze die Russen auch, Kräfte zur Verstärkung der langen russisch-ukrainischen Grenze einzusetzen, die dann im Donbass fehlen. 

Mit den jüngsten Drohnenangriffen auf Moskau reagiert die ukrainische Regierung offensichtlich demonstrativ auf die russischen Luftangriffe auf Kiew. Offiziell hat die Ukraine dafür nicht die Verantwortung übernommen. So war es zunächst auch nach dem Drohnen-Angriff auf den Kreml vor ein paar Wochen. Inzwischen haben amerikanische Regierungsvertreter eingeräumt, dass der Angriff wahrscheinlich von einer der speziellen Militär- oder Geheimdiensteinheiten der Ukraine durchgeführt wurde. 

Die US-Regierung ist offensichtlich von den verdeckten Aktionen und Anschlägen der Ukraine gegen russische Ziele genervt. Denn diese haben – jedenfalls bisher – keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf, aber potentiell große eskalatorische Konsequenzen. Ein besonders kritisches Beispiel ist der Drohnenangriff auf den russischen Flugplatz Engels im Dezember letzten Jahres, auf dem nuklearfähige strategische Bomber stationiert und möglicherweise, zumindest in der Nähe, auch Nuklearwaffen gelagert sind.

Im Zuge des G7-Treffens in Japan vor wenigen Tagen unternahm Bundeskanzler Scholz einen Abstecher an die innerkoreanische Demarkationslinie am 38. Breitengrad. Diese gilt weltweit als Symbol für einen eingefrorenen Konflikt, der zwar nicht ausgeräumt ist, der aber auch nicht weiter täglich Menschenleben fordert. Wollte Scholz mit diesem Besuch die Möglichkeit einer Korea-Lösung auch für den Ukrainekrieg andeuten?

In den USA gibt es schon seit einiger Zeit eine Diskussion über eine „Korea-Lösung“, und zwar sogar innerhalb der amerikanischen Administration und auch unter Beteiligung des Nationalen Sicherheitsrates. Deshalb ist die Vermutung naheliegend, dass sich Scholz mit seinem Besuch an der innerkoreanischen Grenze einen persönlichen Eindruck verschaffen wollte. 

Ich würde ein solches Waffenstillstands-Modell jedoch nicht als „Lösung“ bezeichnen. Die Option des „Einfrierens“ hat gegenüber einer Verhandlungslösung erhebliche Nachteile. Russland führt diesen Krieg, um zu verhindern, dass die Ukraine Mitglied der NATO wird. Denn das westliche Bündnis, vor allen Dingen die Vereinigten Staaten, könnten wie in Südkorea ein erhebliches Truppenkontingent in der Ukraine dislozieren. Es würde also genau das eintreten, was Moskau zu verhindern sucht, und die geopolitischen Verhältnisse würden für lange Zeit, möglicherweise auf Dauer, zuungunsten Russlands verändert. 

Auch für die Ukraine ergäbe ein „Einfrieren“ des Konflikts wenig Sinn, weil dann große Teile der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson unter russischer Kontrolle blieben. Auch die Krim bliebe russisch, womit Kiew kein einziges der von Präsident Selenskyj genannten strategischen Ziele erreicht hätte. Die Ukraine würde deutlich schlechter dastehen gegenüber dem, was zwischenzeitlich in Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew erreicht worden war. 

Aber man weiß nie. Es können in Kriegen immer Situationen entstehen, in denen auf allen Seiten eine Erschöpfung eintritt und plötzlich eine Lösung möglich wird, die kurz davor noch undenkbar schien. 

Wobei, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die Russen weniger Zeitdruck haben. 

Richtig. Dadurch, dass den ukrainischen Streitkräften die Möglichkeiten fehlen, den Russen die beiden strategischen Vorteile zu nehmen – logistische Drehscheibe Krim und Angriffe mit Abstandswaffen über zwei- bis dreitausend Kilometer – und dadurch, dass die NATO nichts unternehmen wird, wodurch sie in den Krieg hineingezogen würde, kann Russland praktisch allein die Intensität und den Verlauf der Kampfhandlungen bestimmen. 

Deshalb stellt sich in den USA und bald auch in Europa immer drängender die Frage, wie lange man eigentlich noch diesen Krieg unterstützen soll. Einen Krieg, der so viele ukrainische Opfer und die Zerstörung des Landes fordert und für den unsere Bürger erhebliche Belastungen und Einbußen in Kauf nehmen müssen. In den Vereinigten Staaten, vor allem unter den Republikanern, läuft diese Diskussion ja längst ganz offen. 

Ein Dauerthema derzeit ist auch die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Bundeskanzler Scholz hat dazu dieser Tage in einem Interview gesagt, dass er diese so schnell nicht sehe. Teilen Sie diese Ansicht?

Durchaus. Die Ukraine fordert für die Aufnahme in die westliche Verteidigungsallianz sogar schon im Rahmen des nächsten NATO-Gipfels am 11./12. Juli eine feste Zusage. Scholz stellte in diesem Interview klar, dass die Ukraine derzeit wichtige Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft nicht erfüllt. 

Auch der NATO-Generalsekretär hat inzwischen gesagt, dass es keine Einigkeit im Bündnis über eine Aufnahme der Ukraine gäbe. Dies ist eine interessante Entwicklung. Denn diese Einigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein Signal in Richtung einer Einladung zur Mitgliedschaft erfolgen kann. 

Klar ist, dass die Ukraine im Moment auf keinen Fall NATO-Mitglied werden kann, weil das Bündnis dann sofort Kriegspartei wäre. Aber wie sieht es nach dem Ende des Krieges aus, unabhängig davon, wie dieser ausgeht?

Mitglied der Nordatlantischen Allianz kann ein europäischer Staat werden, wenn er durch einen einstimmigen Beschluss der Mitgliedstaaten des Bündnisses dazu eingeladen wird. Der Zweck der Allianz ist jedoch nicht, ein Land aufzunehmen, um ihm Sicherheit gegen einen Angriff zu geben und dadurch seine Mitgliedstaaten der Gefahr eines Krieges auszusetzen. Die Allianz ist ein Bündnis gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Das bedeutet, ein Land kann nur dann Mitglied werden, wenn es zur Sicherheit des Vertragsgebietes und der anderen Mitgliedstaaten ebenso beiträgt wie diese zu der des Beitrittskandidaten. 

Eine weitere wichtige Voraussetzung ist, dass der innerstaatliche Zustand des Landes geeignet ist, die Grundsätze des Nordatlantikvertrages zu fördern. Dazu gehören insbesondere eine funktionierende Demokratie und die Freiheit der Person sowie die Gewährleistung der Herrschaft des Rechts. Von Letzterem ist die Ukraine allein schon wegen der allseits bekannten Korruption im Land, die bis in höchste Kreise reicht, weit entfernt. Auch um die Rechte der Minderheiten ist es schlecht bestellt. 

Wie weit die Ukraine von einer NATO-Mitgliedschaft tatsächlich entfernt ist, zeigt der Vergleich mit Finnland, das im April als 31. Mitglied in die Allianz aufgenommen wurde. Finnland ist eine funktionierende Demokratie und ein Rechtsstaat. Das Land leistet einen großen Beitrag zur gegenseitigen, kollektiven Sicherheit des Bündnisses. 

Für eine sichere Zukunft der Ukraine wäre es wichtig, dass am Ende des Krieges ein ausgewogenes Abkommen steht, das vorrangig eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung ermöglicht, in der die Ukraine und Russland ihren Platz haben und die Rivalität der USA und Russland die Selbstbehauptung Europas nicht gefährdet.

Das Interview führte René Nehring.






Zur Person

General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.