18.05.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 23-23 vom 09. Juni 2023 / Politik / Der alte Mann und das Kriegsverbrechen / Wie die Lebensbeichte eines fast hundertjährigen Franzosen lange verdrängtes Wissen in Erinnerung ruft – und manche Selbstgewissheit in Frage stellt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-23 vom 09. Juni 2023

Politik
Der alte Mann und das Kriegsverbrechen
Wie die Lebensbeichte eines fast hundertjährigen Franzosen lange verdrängtes Wissen in Erinnerung ruft – und manche Selbstgewissheit in Frage stellt
René Nehring

Ein Kriegsverbrechen aus dem Jahre 1944 bewegt die Franzosen. Seit der fast hundertjährige Edmond Réveil sein Gewissen erleichterte und darüber berichtete, dass er vor fast achtzig Jahren Zeuge wurde, wie ein Kommando der Résistance in der Nähe von Tulle 47 deutsche Kriegsgefangene und eine unter dem Verdacht der Kollaboration mit den Besatzern stehende Französin erschoss, entwickelt sich in Frankreich eine Debatte über die Rolle der jahrzehntelang als Helden verehrten Widerstandskämpfer. 

Die Verbrechen der Anderen 

Neben dem Ringen der Franzosen über ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg wird durch diese Enthüllung auch die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass in jener heute so fern erscheinenden Zeit keineswegs nur die Deutschen und ihre Verbündeten Kriegsverbrechen begangen haben, und auch nicht nur die Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte, deren Massaker bei der Eroberung Ostmitteleuropas sowie Ost- und Mitteldeutschlands noch einigermaßen bekannt sind, sondern auch die alliierten Gegner im Westen. 

Doch so begrüßenswert die Auseindersetzung der Franzosen mit dem aktuellen Fall und insbesondere das Brechen des Schweigens Edmond Réveils sind, so befremdlich ist die Debatte an sich. Denn im Grunde ist die generelle Kenntnis über Kriegsverbrechen der einstigen Gegner Deutschlands und seiner Verbündeten alles andere als neu. Allein der Wikipedia-Artikel „Kriegsverbrechen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg“ listet unzählige Taten einzelner Soldaten und ganzer Einheiten der britischen, kanadischen, französischen, sowjetischen, jugoslawischen und US-amerikanischen Streitkräfte auf den europäischen und asiatischen Kriegsschauplätzen auf – von Plünderungen und Vergewaltigungen bis hin zur Erschießung gefangener Soldaten und Schiffbrüchiger. Und am Fuß des Artikels belegen Verweise zur Forschungsliteratur, dass diese Kriegsverbrechen längst hinreichend untersucht und bekannt sind. Letzteres allerdings nur, wenn man es wollte. 

Tatsächlich wurden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte fast nur noch die unbestreitbaren Verbrechen der Deutschen und ihrer Verbündeten erinnert. Vor allem in Deutschland selbst ist das Gedenken an die eigenen Opfer des Krieges kaum noch ein Thema. Der Bundespräsident listet in seinen Gedenkreden nur noch deutsche Schandtaten auf. Und das auf Initiative des Bundes der Vertriebenen errichtete Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung stellt die an Deutschen begangenen Kriegsverbrechen so dermaßen in einen internationalen Kontext, dass das eigentliche Anliegen kaum noch zur Geltung kommt. 

Um so wichtiger, dass nun ein Franzose, dessen Gewissen seit Jahrzehnten von der Kenntnis eines Kriegsverbrechens an deutschen Soldaten und einer unschuldigen Landsfrau geplagt ist, sein Herz erleichtert hat. Die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und erst recht für die in deutschem Namen begangenen Kriegsverbrechen relativiert all das nicht. Schon gar nicht taugen diese Enthüllungen als Rechtfertigung eigener Taten nach dem Motto „Aber die Anderen haben doch auch …“ Letzteres schon deshalb nicht, weil dem Massaker an den Deutschen bei Tulle am 12. Juni 1944 das Massaker von Oradour-sur Glane vom 10. Juni 1944 vorausgegangen war, bei dem Angehörige der SS-Panzerdivision „Das Reich“ 643 französische Zivilisten auf bestialische Weise ermordeten. 

Kriege kennen nur Verlierer  

Jedoch zeigen die jüngsten Enthüllungen, dass jeder Krieg für alle Beteiligten ein Zivilisationsbruch ist und keine Seite sauber daraus hervorgeht. Und sie lehren, dass – unabhängig von der Schuldfrage für den Ausbruch – keine Kriegspartei sich über die andere moralisch erheben sollte. Denn auf diesem Feld kennen Kriege meist nur Verlierer. Und selbst jahrzehntelang gefeierte Helden können sich plötzlich als Kriegsverbrecher herausstellen.