18.05.2024

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Folge 24-23 vom 16. Juni 2023 / Wider das Vergessen / 70 Jahre nach dem 17. Juni 1953 droht nicht nur die Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR zu verblassen, sondern auch die Geschichte des Unrechtsstaates insgesamt. Ein Plädoyer für die Bewahrung eines besonderen Kapitels unserer Geschichte im kollektiven Gedächtnis der Nation

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-23 vom 16. Juni 2023

Wider das Vergessen
70 Jahre nach dem 17. Juni 1953 droht nicht nur die Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR zu verblassen, sondern auch die Geschichte des Unrechtsstaates insgesamt. Ein Plädoyer für die Bewahrung eines besonderen Kapitels unserer Geschichte im kollektiven Gedächtnis der Nation
Klaus-Rüdiger Mai

Es mag verwundern, aber der 17. Juni, so unscheinbar dieser Gedenktag inzwischen geworden ist, hat es in sich. Denn im Umgang mit ihm spiegelt sich die Situation der deutschen Gesellschaft, einer Gesellschaft auf der Kippe. Die Feier der Wiedervereinigung ist vorbei, das Glücksgefühl erloschen, die westdeutschen Linksliberalen und Linken, für die sowohl das Gedenken an den Volksaufstand, nicht weil er niedergeschlagen wurde, sondern weil er überhaupt stattgefunden hatte, als auch die Friedliche Revolution von 1989 zu den Tiefpunkten der neueren deutschen Geschichte zählen, haben gesiegt und verbreiten Untergangsstimmung und schlechte Laune im Land. 

Eine Gesellschaft definiert sich auch darüber, an was sie sich erinnern will, welche Augenblicke ihrer Geschichte sie als ihres Gedenkens würdig empfindet und sogar für notwendig hält. 

Im Jahr 1954 erhob die Bundesrepublik den 17. Juni 1954 zum Staatsfeiertag, zum „Tag der deutschen Einheit“. Damit gedachte sie nicht nur des Volksaufstandes in der DDR, sondern wollte zu Recht auch die deutsche Frage offen halten. Das besaß eine hohe Dringlichkeit, weil bedingt durch das Wirtschaftswunder und dem Anwachsen des Wohlstandes im Westen der Osten Deutschlands immer mehr vergessen wurde. Während im Westen Marshall-Plan und Westintegration dem Wirtschaftswunder auf die Sprünge halfen, wurden im Osten ganze Werke auf Züge verladen, in die Sowjetunion transportiert und für viele Jahre auch über 36.000 Fachkräfte mit ihren Familien gen Osten deportiert – zusammen mit den Maschinen und Werksausrüstungen. 

Der Weg der sowjetischen Besatzungszone in die Unfreiheit

So wie viele in der alten Bundesrepublik die deutsche Frage für von der Geschichte geschlossen hielten, wurde der Feiertag inhaltlich immer weniger ernst genommen. Dabei besaß der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 eine größere Komplexität und Dimension und rüttelte in der Tat am Verständnis für Deutschland. Nach anfangs wirtschaftlichen Forderungen am 15. und 16. Juni rückte im Verlauf stärker der Ruf nach Freiheit und nach Demokratie in den Mittelpunkt. Wäre der Volksaufstand geglückt, so wäre der Weg zur Vereinigung offen gewesen, doch zwischen der deutschen Einheit, zwischen der Freiheit und der Demokratie standen sowjetische Panzer und der sowjetische Staatssicherheitsdienst. 

Ulbricht hatte noch im Moskauer Exil seinen Mitarbeitern eingetrichtert, dass es zwar demokratisch auszusehen habe, aber die Kommunisten alles in der Hand behalten müssten. Deshalb hüteten sich die KPD-Funktionäre, die aus der Sowjetunion in die sowjetische Besatzungszone eingeflogen wurden, die Deutschen mit der Forderung nach dem Sozialismus zu verschrecken, obwohl man nichts anderes vorhatte zu errichten als die kommunistische Diktatur. Stattdessen sprachen sie von der „antifaschistisch demokratischen Ordnung“. 

Der Befehl Nr. 2 der SMAD erlaubte die Gründung von Parteien. Nachdem sich KPD und SPD wieder konstituiert hatten, wurde am 26. Juni 1945 in Berlin die CDU von Andreas Hermes, Walther Schreiber, Ernst Lemmer und Jakob Kaiser gegründet. Hermes wurde zum ersten Vorsitzenden der CDU gewählt. Die offizielle „Geschichte der DDR“ von 1984 vertritt in ihrer Rückschau ganz die Linie der SED und ist deshalb eine Quelle, die aussagt, wie man in der SED dachte: „Zu den Gründern der CDU in Berlin gehörten Interessenvertreter der deutschen Monopolbourgeoisie wie Andreas Hermes als erster Parteivorsitzender und Jakob Kaiser, aber auch bürgerliche Demokraten wie Otto Nuschke, die bereit waren, gemeinsam mit den Arbeiterparteien an der Errichtung antifaschistisch-demokratischer Verhältnisse mitzuwirken.“ Otto Nuschke erwarb später seine „Lorbeeren“, als er die CDU im Osten gleichschaltete und zur willigen Blockpartei machte. 

Doch von Anfang an wurde den bürgerlichen Parteien die Arbeit erschwert. Die Benachteiligungen in der politischen Arbeit reichten von der Papierzuteilung für Zeitungen, Plakate und Flugblätter bis zur Verweigerung von Versammlungsräumen. Doch es blieb nicht bei Benachteiligungen. Politiker der SPD und der bürgerlichen Parteien wurden vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst in Nacht-und-Nebel-Aktionen verhaftet, in einem der sowjetischen Speziallager eingekerkert oder in die Sowjetunion in ein Arbeitslager verschleppt. 

Die Gleichschaltung der Parteien 

KPD, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und sowjetischer Staatssicherheitsdienst verfolgten mit Blick auf die SPD und die bürgerlichen Parteien eine eindeutige Personalpolitik, deren Zweck in der Gleichschaltung bestand. Als beispielsweise die Ost-Vorsitzenden der CDU Andreas Hermes und Walther Schreiber sich im Dezember 1945 weigerten, den Aufruf der KPD „Helft den Neubauern“ zu unterschreiben, gerieten sie ins Visier des SMAD, weil sie angeblich „die demokratische Entwicklung in unserer Zone in erheblichem Maße gefährdeten“, wie das offizielle Lehrbuch der DDR-Geschichte später befand. 

Der Sozialdemokrat Erich W. Gniffke berichtete in seinen Erinnerungen, wie konkret die Einmischung der Sowjets in die Arbeit der Parteien erfolgte: Am 19. Dezember 1945 wurden um 7 Uhr morgens die beiden Mitbegründer der Ost-CDU, Jakob Kaiser und Ernst Lemmer, einzeln und ohne dass einer vom anderen Kenntnis hatte, zum Sitz der SMAD nach Karlshorst genötigt. In getrennten Zimmern teilten ihnen die Sowjets mit, dass die Reaktionäre Schreiber und Hermes von der SMAD nicht länger akzeptiert werden. Sowohl Lemmer, als auch Kaiser lehnten eine Entscheidung darüber ab. Sie wurden zum Mittagessen gebeten und trafen hier zum ersten Mal aufeinander. Inzwischen trafen die von den Sowjets herbeigeholten Vorstandsmitglieder ein, so Hugo Hickmann aus Sachsen, Reinhold Lobedanz aus Mecklenburg, Georg Grosse aus Thüringen, Otto Nuschke aus Brandenburg, Ferdinand Friedensburg aus Berlin und Leo Herwegen aus Sachsen-Anhalt. 

Nachdem der Chef der Informationsabteilung der SMAD, Oberst Sergej Tulpanow, am 19. Dezember 1945 alle CDU-Vorständler versammelt hatte, schwor er sie auf das Komplott ein. Gegen 22 Uhr begann dann im Parteibüro der CDU in der Jägerstraße die Vorstandssitzung. Tulpanow erschien in Begleitung mehrerer Offiziere, deren martialisches Auftreten einschüchternd wirken sollte. Die Offiziere ließ Tulpanow auf dem Flur zurück, während er selbst den Vorsitz der Versammlung übernahm und Hermes und Schreiber vorwarf, eine reaktionäre Politik zu verfolgen. Hermes verlangte von Tulpanow, dass er seine Behauptung belege oder erläutere. 

Daraufhin „Tulpanow: „Die Festlegung genügt. Treten Sie zurück!“

Hermes: „Ich bitte um eine Begründung. Solange Sie mir diese nicht geben, trete ich nicht zurück.“

Tulpanow: „Ich sage Ihnen nochmals: Treten Sie zurück!“ 

Hermes: „Ist das ein Befehl?“

Tulpanow: „Ja, das ist ein Befehl der SMAD!“

Hermes: „Einem Befehl muss ich mich beugen.“ Daraufhin befahl Tulpanow dem Vorstand, neue Vorsitzende zu wählen. 

Vergessene Opfer

Während junge Leute wie Werner Ihmels, Luise Langendorf, Wolfgang Natonek, Herbert Belter, Werner Gumpel, Karl Miertschischk, Siegfried Jenkner, Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick, denen man in meinem Buch „Der kurze Sommer der Freiheit“ begegnen wird, noch daran glaubten, dass auch in der SBZ eine demokratische Entwicklung möglich war, hatten SMAD und KPD bereits die wesentlichen machtpolitischen Weichenstellungen für den Weg in die kommunistische Diktatur vorgenommen.

Doch die KPD hatte ein massives Problem. Ihre Beliebtheit hielt sich in Grenzen, sie wurde in weiten Teilen der Bevölkerung als „Russenpartei“ angesehen. Um diesen Makel loszuwerden, um ihren Einfluss zu vergrößern und die SPD zu beerben, nahmen KPD und SMAD unter Beihilfe des sowjetischen Staatsicherheitsdienstes Kurs auf die Vereinigung von KPD und SPD. Gegner der Vereinigung wurden als „rechte Sozialdemokraten“ verunglimpft. 

Wer sich nicht fügte, den drängte man aus seiner Funktion oder, wenn alles nichts half, verhaftete man ihn wie den Halberstädter Stadtrat Otto Bollmann. Dessen Mutter Minna Bollmann, sozialdemokratische Landtagsabgeordnete, hatte sich in der Nacht, bevor sie aufgrund einer Denunziation durch die SA verhaftet werden sollte, am 9. Dezember 1935 das Leben genommen. Otto Bollmann wurde 1936 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt und ins KZ Sachsenhausen verschleppt, aus dem er 1943 entlassen wurde. 1945 gründete er die SPD in Halberstadt, wurde jedoch im April 1946 vom sowjetischen Staatssicherheitsdienst verhaftet, blieb für 15 Monate in Haft, arbeitete nach seiner Entlassung in der SED mit, wurde dann aber unter dem Vorwurf der Sabotage am 5. März 1951 erneut verhaftet und verübte am 7. März 1951 im Gefängnis Suizid. Eines von vielen Schicksalen. 

Das Aufgehen der bürgerlichen Parteien in der „Nationalen Front“ 

Doch auch die Vereinigung mit der SPD zur SED brachte den triumphalen Erfolg bei den Landtagswahlen 1946 nicht, den sich die Kommunisten erhofft hatten. Die Kommunisten sahen zwei Aufgaben vor sich, die sie mit Hilfe der „Freunde“ lösten. Erstens musste die SED unter der Losung „Kampf dem Sozialdemokratismus“ in eine kommunistische Kaderpartei, in eine „Partei neuen Typs“ umgewandelt werden. Zweitens durften keine freien Wahlen mehr stattfinden. Dazu wurden als Tarnorganisationen der SED die sogenannten Massenbewegungen wie der Kulturbund, die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) oder der demokratische Frauenbund Deutschlands gegründet. Alles Organisationen, denen Mandate erst im deutschen Volkskongress, dann in der Volkskammer zugeteilt wurden und die dafür sorgten, dass die SED immer über eine Mehrheit verfügte. Kommunisten gründeten im Parteiauftrag die Bauernpartei als eine SED für die Landbevölkerung und die NDP, die Nationaldemokratische Partei, um der LDP, der Liberaldemokratischen Partei, Wähler zu entziehen. Schließlich wurde die für 1949 vorgesehene Volkskammerwahl um ein Jahr verschoben, um dann 1950 als Blockwahl stattzufinden. 

Die bürgerlichen Parteien waren vollends zur Attrappe der SED geworden, waren nun Teil der Nationalen Front. Von 1950 an hatten die DDR-Bürger nur die Chance, für oder gegen den gemeinsamen Wahlvorschlag der Nationalen Front zu stimmen, in dem bereits festgelegt war, wie viele Mandate welche Partei bekommt. Die Kommunisten hatten aus dem Jahr 1946 gelernt. Freie Wahlen fanden in der DDR zu keinem Zeitpunkt statt. 

Offizieller Aufbau des Sozialismus  

Vor diesem historischen Hintergrund kann man den bürgerlichen Parteien CDU und FDP von heute nur sehr empfehlen, die von den Grünen durchgesetzte Formel von den „demokratischen Parteien“ oder den „Parteien des demokratischen Spektrums“ nicht nachzusprechen. Denn nicht nur, dass dieser Sprachgebrauch zutiefst undemokratisch ist und einen totalitären Hautgout verströmt, benutzt er die Taktik der SED, die sich selbst als demokratische Partei bezeichnete und alle, die sie kritisierten, als „undemokratisch“ verketzerte. Es ist eben nicht demokratisch zu behaupten, dass nur die eigenen politischen Ziele legitim sind und andere nicht. 

Wenn Frida Rubiner 1947 in der theoretischen Zeitschrift der SED schrieb: „Im politischen Kampf unserer Tage wird mit keinem Begriff so viel Missbrauch getrieben wie mit dem Begriff ‚Diktatur‘. Die ‚Diktatur‘ wird geradezu zum Schreckgespenst gemacht für alle Freunde der Demokratie und solche, die es werden wollen“, dann zitierte sie nicht Georges Orwell, sondern fasste das Demokratie-Konzept der SED zusammen. Diktatur ist Demokratie und Demokratie ist Diktatur.

1948 jedenfalls saß die SED fest im Sattel, musste sich jedoch, widerwillig zwar, noch an Stalins Anweisung halten, weiter von der „antifaschistisch-demokratischen“, anstatt von der sozialistischen Gesellschaft zu reden. Doch 1952 genehmigte Stalin, den Aufbau des Sozialismus in der DDR offiziell zu machen. Allerdings mahnte der Moskauer Diktator Pieck, Ulbricht Grotewohl und Oelßner bei einem Treffen am 7. April 1952 in Moskau, dass sie erst einmal einen richtigen Staat schaffen müssten, dass „man auch jetzt kein Geschrei um den Sozialismus zu machen braucht. Aber Produktionsgenossenschaften, das ist ein Stückchen Sozialismus, und volkseigene Unternehmen sind ebenfalls Sozialismus.“ 

Im Klartext hieß das: Ohne allzu viel theoretisch vom Sozialismus zu reden, sollte man vollendete Tatsachen schaffen, indem man die sozialistische Produktionsweise durchsetze. Stalin empfahl, die Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild voranzutreiben. Man müsste die Großbauern durch Kolchosen, in der DDR dann Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) genannt, einkreisen, sie wirtschaftlich, sozial und menschlich isolieren. Die Verstaatlichung der Industrie müsste weiter vorangetrieben, die Grenzen durch eine Grenzpolizei gesichert und eine Armee geschaffen werden. 

Praktisch wirkte sich der verschärfte Kurs der SED so aus, dass die Grenze der DDR zur Bundesrepublik nicht als Demarkationslinie, sondern als Grenze, die es zu sichern galt, behandelt wurde. Um ein straffes, zentralistisches Regieren zu ermöglichen, schaffte die SED die fünf Länder ab und teilt das Land in 14 Bezirke. Die Justiz wurde in der Folge noch weit stärker zur politischen Justiz umgebaut. Sie war nicht mehr unabhängig, sondern die Rechtsprechung hatte „dem Aufbau des Sozialismus, der Einheit Deutschlands und dem Frieden“ zu dienen. Mit dem „Gesetz zum Schutz des Volkseigentums“ vom 2. Oktober 1952 konnte nun auch verstärkt Druck zur Kollektivierung in der Landwirtschaft und zum Zusammenschluss von Handwerkern zu Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) ausgeübt werden. Im Mai 1953 verkündete Ernst Melsheimer, dass dank des Gesetzes „nicht weniger als 7000 Verfahren mit rund 10.100 Personen allein wegen Verstöße gegen dieses Gesetz“ durchgeführt worden waren, Verfahren, die zu Haftstrafen, zu Enteignung, zum Ruin, zu unermesslichem Leid geführt hatten. 

Vor dieser Politik flohen immer mehr Bauern und Handwerker aus der DDR, woraus wiederum wachsende Probleme in der Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln resultierten. Die Schulen – und nach der zweiten Hochschulreform auch die Universitäten und Hochschulen – wurden endgültig zu Orten der sozialistischen Indoktrination. Eine der wichtigsten Lehren aus der Zeit des „Dritten Reiches“, dass die Organe des Staates, die Schulen, Universitäten und Hochschulen weltanschaulich neutral zu sein haben, verkehrten die Kommunisten in ihr Gegenteil. Es galt nun, parteilich zu sein, den „Klassenstandpunkt“ einzunehmen, also die Politik der SED zu vertreten.

Der Weg zum Aufstand 

Am 5. März 1953 starb Stalin. Aus dessen Entourage bildete sich in Moskau eine „kollektive Führung“, in der sich Stalins Bluthund Lawrentij Berija als primus inter pares fühlte. Um den Kessel nicht zum Platzen zu bringen, verordneten die sowjetischen „Freunde“ ihren deutschen Genossen einen neuen Kurs. Doch es war bereits zu spät. Zu viel Frust hatte sich angestaut, und eine Mehrheit in der DDR wollte weder eine Mangelwirtschaft noch den Sozialismus. Zu allem Überfluss erhöhte die SED auch noch am 28. Mai die Arbeitsnormen für Bauarbeiter um zehn Prozent, was einer Kürzung der Gehälter gleichkam. 

Am 15. Juni 1953 begannen die Unruhen in Berlin mit einem Sitzstreik der Bauarbeiter am Krankenhaus Friedrichshain. Am 17. Juni versammelten sich viele Berliner im Zentrum von Ost-Berlin, Streiks fanden nun in der ganzen DDR statt, in Magdeburg, in Halle, im mitteldeutschen Industrierevier, in Dresden, in Görlitz, in Thüringen. Am Vormittag des 

17. Juni zogen die Russen Panzer zusammen. „Die gegen die Regierung gerichtete Bewegung hat auch auf andere Städte der Republik übergegriffen“, meldet der Chef des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes in der DDR Iwan Fadejkin am 17. Juni um 14 Uhr an Berija. Um 16.20 Uhr kabelte Fadejkin, dass in Magdeburg 70.000 Menschen „auf den Straßen der Stadt“ demonstrieren und „Porträts von Lenin und Stalin und führenden Repräsentanten der DDR“ zerreißen. „Das Gebäude der Magdeburger Bezirksleitung wurde demoliert [...] es besteht die Gefahr eines Angriffs auf das Gefängnis und die MfS-Dienststelle.“ Um 13 Uhr wurde der Ausnahmezustand verhängt. Sowjetischen Truppen zeigten mit Panzern Präsenz. Insgesamt kamen in der DDR zur Niederschlagung des Volksaufstandes 16 sowjetische Divisionen zum Einsatz.

Vom 24. bis zum 26. Juli 1953 beriet das ZK der SED auf seiner 15. Tagung, welche Einschätzung der Ereignisse vom 17. Juni kanonisiert werden sollte. Die Tagung kam zur Auffassung, dass für „die Festlegung des faschistischen Putsches auf den 17./18. Juni internationale Gründe entscheidend“ waren. Weil die Waffenstillstandsverhandlungen in Korea vorankamen, weil die „Weltfriedensbewegung“ nach der Tagung des Weltfriedensrates in Budapest „anwuchs“ und schließlich der „zunehmende Widerstand gegen die amerikanische Bevormundung im kapitalistischen Lager selbst“ größer wurde, „unternahmen faschistische Provokateure, die von amerikanischen Offizieren mit Waffen, Benzinflaschen und Instruktionen versehen waren, im demokratischen Sektor von Berlin einen faschistischen Putschversuch“. 

Natürlich war es nach der kommunistischen Doktrin undenkbar, dass die Arbeiterklasse gegen ihre Vorhut protestierte oder sie sogar ihren Rücktritt von der Macht forderte. Daher konnte der Protest nur das Werk von eingeschleusten Provokateuren sein.

Drollige Suche nach den Schuldigen 

Ein Grund, den die SED-Führung anführte, stellte ihre Erbärmlichkeit bloß, denn der Beweis für die „internationalen Zusammenhänge der großangelegten Provokation“, des „faschistischen Putsches“ vom 17. Juni fand sich ihrer Meinung nach in der „Entlarvung des imperialistischen Agenten Berija ... Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei dankt dem Zentralkomitee der KPdSU für die rechtzeitige Entlarvung des Verräters Berija. Es drückt dem Zentralkomitee der KPdSU sein festes Vertrauen aus und bekundet seine Verbundenheit mit der Partei Lenins und Stalins.“ 

Obwohl nach Stalins Tod Berija die Rolle des primus inter pares in der Führungsspitze der KPdSU zunächst einnahm, trieb die anderen Politbüromitglieder der pure Selbsterhaltungswille dazu, Berija in einem schon drollig anmutenden Putsch am 26. Juni 1953 festzunehmen und zu erschießen. 

Gescheitert wäre der „Putschversuch“, log die SED, weil „die Mehrheit der Bevölkerung der DDR, besonders der Arbeiterklasse ... die Provokateure nicht unterstützt, sondern energisch zurückgewiesen hat.“ Jeder sowjetische Panzerfahrer war demnach in Wahrheit ein ostdeutscher Arbeiter.

Das Nachwirken des 17. Juni 

Der Dichter Heiner Müller erzählt in seinem Erinnerungsbuch eine Anekdote, die ein Licht auf die Denkweise von Ulbricht und auf seine Sicht auf den 17. Juni 1953 wirft: „Irgendwann traf ich in Ahrenshoop Jan Koplowitz, einen DDR-Schriftsteller, er erzählte mir, er habe Ulbricht getroffen, und der habe ihn gefragt: ‚Nu, Genosse Koplowitz, was schreibst’n jetzt?‘ Koplowitz war noch im ,Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller‘ gewesen und sagte: ‚Ich will jetzt ein Buch über den 17. Juni schreiben.‘ Da hat ihm Ulbricht erklärt, wie er das schreiben muss: ‚Nu, pass uff, das musste so schreiben. Da ist ein Funktionär, ja, und der hat Mist gebaut und muss in die Produktion, an die Basis. Und nu hat er weeche Hände, Macht macht weeche Hände, und kann nicht arbeeten, und nu moopt er.‘ Also eine Erklärung des 17. Juni aus der Schwierigkeit eines Funktionars, der an die Basis versetzt wird und nicht mehr so richtig körperlich arbeiten kann.“ 

Die Ergebnisse des 17. Juni wirkten sich traumatisch aus. Deshalb gehörte es zu den wichtigsten Sätzen, die 1989 von Mund zu Mund gingen, dass diesmal die sowjetischen Panzer in den Kasernen bleiben und nicht fahren werden. 

Die sowjetischen Panzer standen am Anfang der DDR, sie sicherten sie ab, und als sie nicht mehr dazu bereit waren, verschwand die DDR. 

Wir brauchen den Gedenktag des 17. Juni als Feiertag der Demokratie nötiger denn je.  






Dr. Klaus-Rüdiger Mai ist Schriftsteller und Publizist. Soeben erschien „Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde“ (Herder).

www.herder.de