18.05.2024

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Folge 25-23 vom 23. Juni 2023 / „Was heißt eigentlich Heimat?“ / Über die Arbeit einer besonderen Abgeordnetengruppe im Deutschen Bundestag, den Osten als politische Himmelsrichtung und die Erneuerung der CDU in Zeiten eines historischen technologischen, demographischen und kulturellen Wandels

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-23 vom 23. Juni 2023

„Was heißt eigentlich Heimat?“
Über die Arbeit einer besonderen Abgeordnetengruppe im Deutschen Bundestag, den Osten als politische Himmelsrichtung und die Erneuerung der CDU in Zeiten eines historischen technologischen, demographischen und kulturellen Wandels
René Nehring

Im Gespräch mit Christoph de Vries

Unter den Zusammenschlüssen im Bundestag ist die Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten der CDU/CSU-Fraktion eine Besonderheit. Doch ist eine solche Gruppe mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg noch zeitgemäß? Fragen an einen Politiker, für den ein Wort wie Heimat alles andere als altmodisch ist. 

Herr de Vries, Sie sind Vorsitzender der Gruppe der Vertriebenen und Aussiedler der Unions-Fraktion im Bundestag. Das Thema wird gemeinhin mit längst vergangenen Zeiten verknüpft. Was hat Sie, Jahrgang 1974, dazu bewogen, sich in dieser Gruppe zu engagieren?

Mich hat fasziniert, dass sie die erste soziologische Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach ihrer Gründung 1949 war. Wir sind damit noch immer ein Unikat im Bundestag, was die enge Verbundenheit der Union zu den Heimatvertriebenen, deren Angehörigen und Nachfahren, aber auch zu den Aussiedlern und Spätaussiedlern, belegt. 

Meine Mutter stammt aus dem Sudetenland, und ich hatte in Hamburg seit jeher engen Kontakt zu den Spätaussiedlern und ihren Vereinen. Insofern passte alles zusammen. 

Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt fast achtzig Jahre zurück, auch die Hochphase der Aussiedlerzuzüge ist lange vorbei. Da könnte man meinen, dass eine solche Gruppe kaum noch gebraucht wird.

Natürlich sind die Diskussionen der Nachkriegszeit, als es um die Folgen des Heimatverlustes ging sowie lange auch um die Wiederkehr in die Heimat, vorbei. Dennoch bildet die Arbeit mit den Landsmannschaften im Bund der Vertriebenen nach wie vor einen Schwerpunkt für uns. Sie sind heute wichtige Brückenbauer zu unseren Nachbarn. Gleiches gilt für die Aussiedler und Spätaussiedler, die immerhin rund viereinhalb Millionen Bundesbürger umfassen. 

Ein konkretes Tätigkeitsfeld unserer Gruppe sind die deutschen Minderheiten im Ausland. Diese gibt es in 26 Ländern. Wir verstehen uns als deren Interessenvertreter in unserem Land und unterstützen sie sowohl in ihrer Selbstorganisation als auch in ihrer Brückenfunktion zwischen ihrer Heimat und Deutschland. In Polen zum Beispiel, wo wir seit Jahren einen steigenden Druck auf die deutsche Volksgruppe erleben und zuletzt der muttersprachliche Deutschunterricht massiv reduziert wurde, sind wir in Verhandlungen getreten mit der Regierung in Warschau und haben zugleich auf die Bundesregierung eingewirkt, damit die Minderheitenrechte der Schlesier, Ost- und Westpreußen sowie Pommern gewahrt bleiben.

Dass sich immer neue Themen auftun, zeigt der Ukrainekrieg. Dieser belegt auf dramatische Weise, dass Fragen der Volkszugehörigkeit der Deutschen in Ostmittel- und Osteuropa noch immer relevant sind. Hierbei haben wir als Union auf die Folgen der von der Bundesregierung geänderten Anerkennungspraxis verwiesen, die zur Folge hatte, dass tausende Landsleute in Deutschland nicht mehr als Spätaussiedler anerkannt worden sind, und konnten die Innenministerin durch Beharrlichkeit dazu bewegen, zur alten Anerkennungspraxis zurückzukehren. 

Insofern gibt es immer neue Themen, auch und gerade über den Wechsel von der Erlebnis- zur Bekenntnisgeneration hinaus. Nicht zuletzt bleibt ein Dauerthema unserer Arbeit die Kulturförderung, insbesondere der nach Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes geförderten Einrichtungen. 

Also alles in allem mehr Arbeit mit der Gegenwart als Traditionspflege?

Absolut. Traditionspflege allein würde früher oder später das Ende der historischen Überlieferung und damit auch das Kappen aller Brücken gen Osten bedeuten. 

Wir wollen unsere Arbeit aber noch weiter fassen. Die Vertriebenen standen jahrzehntelang wie kaum eine zweite Organisation für den Begriff „Heimat“. Dieser ist in den letzten Jahren insgesamt wieder populärer geworden. Doch was heißt eigentlich Heimat? Oder was heißt Vaterland? Wie kann ein zeitgemäßer Patriotismus aussehen, der unsere immer vielfältiger werdende Gesellschaft zusammenhält? Auch das sind Dinge, mit denen wir uns als Gruppe beschäftigen und die wir auch über das neue Grundsatzprogramm der CDU in die politischen Debatten tragen wollen.

Wie könnte das aussehen? 

Auf jeden Fall wird es ein klares Bekenntnis zu Deutschland als Vaterland geben und eine positive Beziehung zu unserem Land zum Ausdruck bringen, die sich sowohl von der Egal-Haltung als auch vom Nationalismus anderer abgrenzt. Helmut Kohl hat jahrzehntelang gezeigt, dass Patriotismus, Europafreundlichkeit und Weltoffenheit kein Gegensatz sind, sondern sich sogar gegenseitig bedingen. 

Durch Deutschlands Stellung und Lage betrifft jeder noch so weit entfernte Konflikt früher oder später auch uns. Das gilt gerade auch für den Osten, wie der Ukrainekrieg zeigt. Gleichwohl gibt es heute – nicht zuletzt als Folge der Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten – kaum noch ein Bewusstsein für den Osten als politische Landschaft. Muss die deutsche Politik wieder stärker den Fokus in diese Richtung lenken und verstehen, dass die Geschichte dort keineswegs zu Ende ist? 

Sie haben recht, dass der Blick der Deutschen nach Osten unterbelichtet ist und dass dieses Desinteresse konkrete Konsequenzen hat. Hier gibt es einiges zu verbessern. 

Die Leistungen des Ostens, nicht nur in den vergangenen Jahrhunderten, sondern gerade auch in der jüngeren Geschichte, sind enorm. Ich denke hier an den Sturz des Kommunismus und die Transformation sozialistischer Planwirtschaften in eine demokratisch verfasste marktwirtschaftliche Gesellschaft. Doch anstatt das anzuerkennen und zu überlegen, ob der Westen etwas vom Osten lernen kann, blicken viele im Westen noch immer mit einer gewissen Überheblichkeit auf den Osten. Das halte ich für einen Grundfehler.

Zum Ukrainekrieg müssen wir anerkennen, dass die Deutschen und die Europäer insgesamt in den vergangenen dreißig Jahren sicherheitspolitisch naiv waren. Wir haben uns nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation darauf verlassen, dass es immer friedlich weitergeht. Heute wissen wir, das war falsch. Wir hätten auf die Warnungen unserer osteuropäischen Nachbarn hören sollen.

Bundeskanzler Scholz hat nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs von einer „Zeitenwende“ gesprochen und dies vor allem sicherheitspolitisch gemeint. Brauchen wir auch eine Zeitenwende in der Ostpolitik?

Sicher, wobei die letzten Monate zeigen, dass Sicherheits- und Ostpolitik zusammengehören. Sie haben eben gesagt, dass sich Deutschland aufgrund seiner Lage nicht verstecken kann. Als größte Volkswirtschaft und einwohnerstärkstes Land Europas ist von Deutschland Führung gefragt. Die Frage ist, ob wir den Willen dazu haben – und die Fähigkeit? 

Zu Letzterem gehört, dass es in den letzten Jahren fast nirgends die Bereitschaft gab, genügend Mittel in die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit unseres Landes zu investieren. Deshalb ist es unerlässlich, jetzt nicht nur die Ukraine zu unterstützen, sondern endlich auch unsere Bundeswehr in die Lage zu versetzen, die ihr übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Seit der Krim-Annexion haben wir Jahr für Jahr den Wehretat erhöht und dies nahezu ausnahmslos gegen den Widerstand der SPD. Noch wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2021 hat Scholz als Finanzminister die Anschaffung bewaffneter Drohnen verhindert.

Als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums habe ich Zweifel, ob wir in der Lage sind, uns den Bedrohungen von außen zu widersetzen. Wir erleben regelmäßig Cyber-Angriffe und Desinformationskampagnen aus Russland. Und wir müssen endlich auch über China sprechen, das eine ungleich größere Herausforderung darstellt. Hier habe ich jedoch nicht den Eindruck, dass in der Bundesregierung ein ausreichendes Bewusstsein dafür vorhanden ist. 

Unser Grundproblem ist, dass bei den die Außenpolitik bestimmenden Parteien moralischer Übereifer und Naivität aufeinandertreffen. Wir bräuchten einen Mittelweg. Wir müssen definieren, was die strategischen Interessen Deutschlands sind, wie wir bestehende Abhängigkeiten reduzieren und Sicherheiten erhöhen können, ohne die wirtschaftlichen Verflechtungen infrage zu stellen. Es ist ein Trauerspiel, dass es bis heute keine China-Strategie der Bundesregierung gibt. Auch die Nationale Sicherheitsstrategie ist nicht mehr als ein Papiertiger. Der Verzicht der Ampel auf einen Nationalen Sicherheitsrat, der außen- und sicherpolitische Entscheidungen koordiniert und in Krisenzeiten die operative Steuerung übernimmt, ist eine gravierende politische Fehlentscheidung, die allein dem ungelösten Kompetenzgerangel zwischen Kanzleramt und Außenministerium geschuldet ist.

Sie haben Russland angesprochen. Wie sollen wir künftig mit diesem riesigen Land umgehen, das ja immer auch ein wichtiger Partner Deutschlands war? 

Ich glaube, unter Wladimir Putin kann es keinen Neuanfang in den Beziehungen zu Russland geben. Dafür fehlt mir die Phantasie nach allem, was wir seit Langem erleben: den Rückbau demokratischer Standards, das systematische Einkassieren demokratischer Grundrechte wie der Versammlungsfreiheit und der Pressefreiheit. Oppositionelle wurden vergiftet und erschossen, oder sie leben in Lagern und im Exil. Und natürlich die vielen Kriege und Konflikte, die er schon vor dem Überfall auf die Ukraine angezettelt hat.

Aber selbstverständlich müssen wir per-spektivisch ein Interesse haben, auch mit Russland in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Es ist und wird immer ein enormer Faktor unserer Politik bleiben, unabhängig davon, wer in Moskau das Sagen hat. 

Wie sieht es mit der Zeitenwende der Union aus? Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels sind viele unserer Probleme auch das Erbe christdemokratischer Politik. 

Sicherlich. Wobei die Union in all den Jahren nicht allein regierte, sondern meistens zusammen mit den Sozialdemokraten, was wiederum viele Kompromisse zur Folge hatte. 

Der Verlust der Regierung ist für eine Partei, die Politik aktiv gestalten will, zweifellos schmerzhaft. Allerdings war dieser Verlust weitgehend selbst verschuldet und kein Ergebnis der Stärke der SPD oder gar von Olaf Scholz. Diese Erkenntnis bietet jedoch auch die Chance zu einem Neuanfang. 

Dass wir diese Chance ergreifen wollen, hat Friedrich Merz mit dem Prozess zu einem neuen Grundsatzprogramm verdeutlicht. Mit Carsten Linnemann hat er einen anerkannten Ordnungspolitiker zum Chef der Grundsatzkommission gemacht. Und deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir christdemokratische Grundsätze im 21. Jahrhundert formulieren werden, die den Menschen deutlich machen, wofür die CDU steht und was sie von den Wettbewerbern abgrenzt. Dass die Union in den Umfragen nicht nur auf Platz 1 steht, sondern fast so stark ist wie Grüne und SPD zusammen, zeigt, dass dieser Weg auch von den Wählerinnen und Wählern honoriert wird. 

Wir erleben einen historischen Wandel – technologisch, demographisch, ökonomisch und auch kulturell. Das führt nicht nur zu einem Erstarken populistischer Kräfte, auch Grüne und Sozialdemokraten forcieren eine Identitätspolitik, die massiv zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. Als Beispiel hierfür seien die Gender-Politik genannt und die „Woke“-Bewegung, die auf eine Verdrängung aller Werte und Maßstäbe zielt, die unser Land und Europa über Jahrhunderte geprägt haben. 

Ich finde, die Union als Volkspartei der Mitte sollte sich dem beherzt entgegenstellen. Wir sollten uns wieder stärker zu Begriffen und Werten bekennen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Dazu gehören auch Patriotismus, Heimat und Vaterland, die – richtig verstanden und gelebt – immer ein Angebot zur Integration sind. Ein weiteres Auseinanderdriften kann niemand wollen.





Zur Person

Christoph de Vries ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags. Er ist Vorsitzender der Gruppe   der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minder-heiten der CDU/CSU-Fraktion sowie Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) zur Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes. 

www.christophdevries.de

Das Interview führte René Nehring.