18.05.2024

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Folge 25-23 vom 23. Juni 2023 / Soziale Medien / Die Sucht nach Sensationen im Internet / Mit kleinen Filmchen auf YouTube oder TikTok träumen Jugendliche vom großen Erfolg – Dabei reizen sie oft die Grenzen zu weit aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-23 vom 23. Juni 2023

Soziale Medien
Die Sucht nach Sensationen im Internet
Mit kleinen Filmchen auf YouTube oder TikTok träumen Jugendliche vom großen Erfolg – Dabei reizen sie oft die Grenzen zu weit aus
Dagmar Jestrzemski

Auffallen, um jeden Preis in der Menge auffallen – diesem herausfordernden Prinzip unterwerfen sich ehrgeizige, Internet-affine Jugendliche, die in den sozialen Medien Videos veröffentlichen, mehr oder weniger freiwillig. Sie sind darauf angewiesen, mit ihren Video-Clips bei YouTube, TikTok, Instagram oder auf der Streaming-Plattform Twitch ein möglichst großes Publikum für ihre Darbietungen zu interessieren, oder wie es in der Fachsprache dieses Genres so schnöde wie zutreffend heißt, eine möglichst große Zahl an Followern, also Personen, die einem „folgen“, zu generieren. 

Dafür ist es in der Regel nötig, sich auf ein besonderes Thema wie etwa Mode oder Fitness zu spezialisieren oder auch auf anspruchsvolle Themen wie Politik und Gesellschaftskritik. Manche, vor allem jugendliche YouTuber, bauen auf skurrile Aktionen und knüpfen damit an die US-amerikanische TV-Kultserie 

Jackass vom Anfang der 2000er Jahre an.

Oft ist zu hören, die Motivation dieser „Influencer“, also „Einflussnehmer“, sei vor allem Spaß an der kreativen Tätigkeit und die Lust, immer wieder etwas Neues auszuprobieren. In Wirklichkeit dominiert bei ihnen jedoch oft der Wunsch, auf diesem Weg rasch prominent, reich und berühmt zu werden. Anreiz dazu bietet das äußere Erscheinungsbild der berühmten Stars dieser Szene. Diese sind sowohl Meinungsmacher als auch Multiplikatoren in der Produktwerbung. 

Direkt oder indirekt sind alle Influencer zugleich auch Werbeträger. In der Branche dreht sich im Kern alles um Einnahmen durch Werbung, und diese werden nur durch sehr viele Klicks von Zusehern erzielt. Die Vergütung ist mit wenigen Cents pro Klick gering. 

Bevor man mit seinem vielleicht schon monatelangen Einsatz in den sozialen Medien einen bestimmten Status erreicht hat und die finanziellen Vorteile sogenannter Partnerprogramme genießt, um Einkünfte über Werbeeinnahmen oder Werbeverträge zu erzielen, muss eine hohe Klickzahl durch das Publikum erreicht werden. Ab 10.000 abonnierten Follow­ern kann man bereits Geld verdienen.

Bewusst herbeigeführtes Unglück

Schon vorher hat aber bei vielen Aktiven der anhaltende Druck, regelmäßig auf dem eigenen Kanal neue Filmchen und Selfies zu liefern, um die Follower am Ball zu halten, den Spaß an der Sache geschmälert, und sie haben aufgegeben. Es braucht in diesem Job Ausdauer, tägliche Arbeit und auch eine Portion Glück. Den großen Durchbruch schaffen die wenigsten. Mit leicht verdientem Geld hat das zumeist nichts zu tun. 

Durch anfeuernde Kommentare der Follower steigt der Druck, Aufmerksamkeit in den sozialen Medien zu erzielen, nochmals. Das kann im Einzelfall zu Hochstapelei oder zu lebensgefährlichen Aktionen verleiten. Einen sensationellen Erfolg erhoffte sich der kalifornische YouTuber Trevor Jacob, der im Dezember 2021 auf seinem YouTube-Kanal ein Video mit einem, wie sich später herausstellte, absichtlich herbeigeführten Flugzeugabsturz eingestellt hatte. Jacob war mit einem Fallschirm aus einem Kleinflugzeug abgesprungen und hatte während des Fallschirmsprungs den Absturz des Flugzeugs gefilmt. Das Video wurde über 

2,9 Millionen Mal aufgerufen. 

Einigen Zusehern fiel jedoch auf, dass der Pilot den Fallschirm bereits an Bord der Maschine trug und zudem keine Bemühungen erkennen ließ, das Flugzeug sicher zum Landen zu bringen. Gegen ihn wurde Anklage erhoben. Die Staatsanwaltschaft des Central District of California beschuldigt den 29-Jährigen, für den Absturz verantwortlich gewesen zu sein. Anschließend habe er das Flugzeugwrack beseitigt, um eine bundesstaatliche Untersuchung des Vorfalls zu verhindern. Der Angeklagte bekennt sich nur in diesem einen Punkt schuldig. Sein Verteidiger hat erklärt, dass das Video im Rahmen eines Produktsponsorings entstanden ist.

Folgendes soll sich ereignet haben. Im November 2021 startet Jacob das Flugzeug auf dem Santa-Barbara-Flughafen in Kalifornien. Er hat einen Fallschirm und einen Selfie-Stick mit an Bord genommen. Am Flugzeug hat er mehrere Kameras angebracht. 35 Minuten nach dem Abheben stürzt die Maschine in den Los Padres Nationalpark. Der Pilot war zuvor mit dem Fallschirm abgesprungen. 

Das Herkules-Baby

Vorschriftsmäßig meldet er dem National Transportation Safety Board den Absturz und erhält die Anweisung, am Flugzeugwrack nichts zu verändern. Er behauptet, den Absturzort nicht zu kennen. Die Behauptung hält er anfangs auch gegenüber seinem Anwalt aufrecht. Tatsächlich aber fliegt er mit einem Hubschrauber zum Absturzort, zerlegt und entfernt das Flugzeugwrack mitsamt dem Beweismaterial.

Laut der Staatsanwaltschaft war es von vornherein nicht seine Absicht, den angegebenen Zielort zu erreichen. Sein Plan sei stattdessen gewesen, das Flugzeug zum Absturz zu bringen, vorher abzuspringen und während des Fallschirmflugs den Sturzflug der Maschine zu filmen. Demnächst muss der Beschuldigte erstmals vor Gericht aussagen. Die Pilotenlizenz wurde ihm bereits entzogen. Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis. Sein Video könnte im Verlauf des Prozesses noch millionenfach aufgerufen werden, doch das nützt ihm nun nichts mehr.

Zum Glück bleiben derartige extreme Aktionen die absolute Ausnahme. Mit beliebten Themen wie Essen, Beauty und mit Tiervideos kann man als Influencer und YouTuber auch kaum über das Ziel hinausschießen. Menschen in aller Welt schauen sich gern Videos mit Purzelbaum schlagenden Papageien, dressierten Hunden und kämpfenden Wildtieren an. Dabei wird die Dopaminproduktion im Gehirn der Zuseher angeregt. 

Mitunter ist der Zufall im Spiel, wenn ein Video viral geht. Jüngst erzielte eine junge Mutter in den USA mit 49 Millionen Klicks auf ihrem Instagram-Kanal einen Rekordwert. Sie hatte ein Video ihres erst drei Tage alten, ungewöhnlich agilen Babys gepostet. Auf dem Bauch liegend, unternimmt das neugeborene Mädchen mit leicht angehobenem Kopf offenbar den Versuch, sich hochzustemmen. „Sie ist so stark wie ein kleiner Herkules“, raunt die weibliche Stimme aus dem Off im üblichen Märchenerzählerton.

Das Video scheint echt zu sein. Ein Arzt erklärte, dergleichen noch nicht gesehen zu haben. Einige Hebammen bezeichneten dagegen die Bewegungen des kräftigen Babys als einen seltenen Neugeborenen-Reflex und sorgten damit für Ernüchterung so vieler Menschen, die vom Video-Konsum in den sozialen Netzwerken süchtig nach ständig neuen Sensationen geworden sind.