18.05.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Folge 26-23 vom 30. Juni 2023 / Quo vadis, Genossen? / Der jüngste Machtkampf in der österreichischen Sozialdemokratie legt die Formschwäche sozialdemokratischer Parteien in ganz Europa bloß: Hilflos lavieren die Genossen zwischen Anbiederung an den woken Zeitgeist und der Furcht vor Populisten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26-23 vom 30. Juni 2023

Quo vadis, Genossen?
Der jüngste Machtkampf in der österreichischen Sozialdemokratie legt die Formschwäche sozialdemokratischer Parteien in ganz Europa bloß: Hilflos lavieren die Genossen zwischen Anbiederung an den woken Zeitgeist und der Furcht vor Populisten
Holger Fuß

Nachdem das allseitige Gelächter über Österreichs Sozialdemokraten verhallt ist, werden die Konturen des darunter liegenden Konfliktes sichtbar. Nach monatelangem Machtkampf hatte der burgenländische Landeshauptmann (bei uns Ministerpräsident) Hans Peter Doskozil die ungeliebte Parteichefin Pamela Rendi-Wagner in einer Mitgliederbefragung verdrängt. Nun musste er sich auf einem Sonderparteitag Anfang Juni in Linz noch gegen den niederösterreichischen Kleinstadt-Bürgermeister Andreas Babler durchsetzen. Sein Sieg fiel dann knapp aus: Doskozil erhielt 53 Prozent der Delegiertenstimmen und Babler 47 Prozent. Erst zwei Tage später stellte sich heraus, dass die Wahlkommission gepfuscht und die Auszählergebnisse vertauscht hatte. Nicht Doskozil ist neuer Vorsitzender der SPÖ, sondern Babler.

Ob Babler seine Partei zu einer neuen Einigkeit führen wird, ist ungewiss. Zu unversöhnlich stehen sich das eher pragmatische Lager Doskozils und das linke Lager Bablers gegenüber. In mancher Hinsicht erinnert die Auseinandersetzung an die Grabenkämpfe bei den deutschen Grünen zwischen Realos und Fundis. Und auf seltsam präzise Weise verkörpern die beiden Protagonisten Doskozil und Babler zwei Typologien, die nicht nur in der Sozialdemokratie der Alpenrepublik miteinander um die Richtung ringen.

Kulturkampf unter den Genossen

Hans Peter Doskozil, 53, stammt aus einem Dorf in der Nähe von Oberwart im Burgenland nahe der ungarischen Grenze. Nach 

Abitur und Grundwehrdienst ging er zur Bundespolizei und studierte berufsbegleitend Rechtswissenschaften, schloss mit dem 

Mag. iur. ab. Er machte rasch Karriere in der Polizeihierarchie, wechselte ins Bundesinnenministerium, leitete dann das Büro des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Niessl, den er später beerben sollte, wurde erster Landespolizeidirektor und schließlich Verteidigungsminister in Wien. 2019 wurde Doskozil Landeshauptmann im Burgenland in einer Koalition mit der FPÖ. Nach einer vorgezogenen Neuwahl wegen der Ibiza-Affäre regiert er das östlichste Bundesland seit 2020 mit absoluter Mehrheit der SPÖ.

Seit 2015 hatte die SPÖ im Burgenland mit der austro-nationalen FPÖ regiert – in Deutschland käme eine Zusammenarbeit der SPD mit der AfD einer Aufhebung der Schwerkraft gleich. Doskozil stand während der Flüchtlingskrise 2015 noch für die Willkommenskultur und verteidigte als Landespolizeidirektor und später Verteidigungsminister sein humanitäres Engagement gegen Kritik von rechts. Heute tritt er offensiv für eine Begrenzung der Migration ein, weil er weiß, dass eine gute Integration nicht mehr gelingen kann, wenn die Zahl der Zuwanderer sehr hoch ist. Gilt Doskozil in seiner Partei bei Migrationsfragen als eher rechts, so steht er mit seiner Sozialpolitik eher links. Zu seiner Agenda gehören ein 2000-Euro-Mindestlohn für alle, flächendeckende Gesundheitsversorgung statt Zwei-Klassen-Medizin und Teuerungsbekämpfung durch gestaffelte Wärmepreisdeckel und Einfrieren der Mieten.

Kurzum: Doskozil steht für den klassischen Sozialdemokraten aus kleinen Verhältnissen, aufstiegsorientiert und die gegebenen Verhältnisse für die eigenen Zwecke in Dienst nehmend. Damit grenzten sich die gemäßigten, reformorientierten Sozialdemokraten von den umsturzwilligen Kräften schon zu Kaisers Zeiten im 19. Jahrhundert ab. Nichts anderes besagt auch der Claim auf Doskozils Webseite: „Geben wir die Sozialdemokratie jenen zurück, für die sie gegründet wurde.“

Sein Gegenspieler und neuer Parteivorsitzender Andreas Babler, 50, personifiziert hingegen den Typus des urbanen Salonlinken, der so tut, als wolle er das System stürzen, in Wahrheit aber auch nur vom Aufstieg träumt. Babler kommt aus einer Arbeiterfamilie im Industriestädtchen Traiskirchen bei Wien. Die Höhere Technische Lehranstalt in Mödling brach er ab, verdingte sich als Maschinenschlosser und Lagerarbeiter, eine Lehre hat er nie abgeschlossen. Nach dem Wehrdienst stieg er bei der Sozialistischen Jugend der SPÖ (SJ) vom Landessekretär zum Bundessekretär auf, jobbte als Schichtarbeiter und Gemeindebediensteter in Traiskrichen. 2014 wurde er dort zum Bürgermeister gewählt.

Ein europäisches Phänomen 

Die SJ gilt als marxistisch-leninistisch, noch heute nennt sich Babler einen Marxisten. Er hat den Untergang Jugoslawiens beklagt und die EU das „aggressivste militärische Bündnis, das es je gegeben hat“ genannt – „schlimmer als die NATO“. Zweifellos kann Babler mit seinem systemkritischen Habitus auch Wutwähler ansprechen, die derzeit, wie in Salzburg und Graz, die Kommunistische Partei wählen oder eben die FPÖ. Unzufriedenheit braucht kein politisches Programm, sondern eine emotionale Resonanz, um Geborgenheit zu finden.

Aber auch Doskozil hat gute Chancen, im FPÖ-Klientel zu wildern, die die Freiheitliche Partei in aktuellen Umfragen mit rund 30 Prozent zur stärksten Kraft im Lande macht. Doskozil ist ein Mann, wie ihn von politischen Eliten enttäuschte Bürger mögen: Voller Tatkaft und Machtinstinkt, dabei bodenständig und mit seiner rauen Stimme infolge eines Kehlkopfleidens nicht aalglatt im Auftreten, sondern nahbar und burschikos. Ihm trauen SPÖ-Funktionäre eher zu als Babler, den Freiheitlichen Prozente abzujagen.

Genau dies ist das Hauptproblem bei Sozialdemokraten in ganz Europa. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wendet sich die traditionelle Arbeiterklientel von ihrer sozialdemokratischen Hauspartei ab und sucht Nestwärme an den politischen Rändern. In Deutschland konnte die Linkspartei viele Jahre entflohene SPD-Wähler abschöpfen. Heute profitiert die AfD vom Frust der Menschen auf Union, SPD, Grüne und FDP. 

So sehr CDU/CSU dabei versagen, die heimatlosen bürgerlichen Wähler einzufangen, so sehr scheitert die SPD daran, die Protestenergie im Lande unter ihrem Dach zu institutionalisieren. Eine Partei der Arbeiter, Kleinbürger und Handwerker ist die SPD schon lange nicht mehr. Seit den 1970er Jahren wurde sie vom linksakademischen Bürgertum gekapert. Die Dienstboten blieben draußen vor. Zudem ist die Bundesrepublik so sehr durchsozialdemokratisiert, dass sich sogar ein ehemaliger CSU-Chef wie Horst Seehofer als letzten Sozialdemokraten Bayerns bezeichnete, wie der Ex-Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens, Sigmund Gottlieb, verriet.

Opfer des Wohlfahrtsstaats 

In allen westeuropäischen Ländern haben Sozialdemokraten ihre Wohlstandsdividende, den Wohlfahrtsstaat, errungen und sich damit strukturell überflüssig gemacht. In Frankreich ist der Parti socialiste auf 1,75 Prozent marginalisiert, während die Nationale Sammlung von Marine Le Pen zur zweiten Kraft in der Republik erstarkt. In Italien hat der Partito Democratio (PD) zuletzt 19,07 Prozent erhalten und Giorgia Melonis rechtskonservative Fratelli d’Italia können mit 26 Prozent eine Mitte-Rechts-Koalition anführen. Auch hier das gleiche Problem: Der PD unter Parteichefin Elly Schlein, 37, punktet mit Mindestlohn, höheren Steuern für Reiche und mehr Solidarität mit Flüchtlingen beim großstädtischen, gebildeten Mittelstand, aber italienische Arbeiter wählen lieber die rechte Lega.  

Ein sozialdemokratischer Jungstar wurde gerade in Finnland aus dem Sattel gehoben: Sanna Marin, 37, seit 2019 jüngste Regierungschefin der Welt, war das Postergirl für alle jene, die eine sozialdemokratische Renaissance unter weiblicher Führung herbeisehnten. Im April wurde sie abgewählt. Zuviele Schulden gefährdeten das Sozialsystem, kritisierten ihre Gegner. Nun wird auch Finnland von Mitte-Rechts regiert – ohne Sozialdemokraten.

Der dänische Weg 

Machtpolitisch raffinierter sind die Genossen in Dänemark verfahren. Im vergangenen Jahrhundert machte die Arbeiterbewegung das Land zum Wohlfahrtsstaat. Ein Königreich, dominiert von Sozialdemokraten. Die Dänische Volkspartei war die erste rechtspopulistische Partei in Europa, die in den neunziger Jahren den Kampf gegen Zuwanderung mit der Verteidigung der Wohlfahrtsprivilegien verknüpfte. Als Mette Frederiksen 2015 die Sozialdemokratische Partei übernahm, war klar, dass die Mehrheit der Dänen die liberale Haltung zur Migration ablehnen. Frederiksen schuf einen Mix aus linker Sozial- und Steuerpolitik sowie einer restriktiven Migrationspolitik. Bessere Kitas, mehr Lehrer, stärkere Besteuerung Vermögender durch Aktien-, Erbschaft-, Banksteuern. Dazu weniger Einwanderung, finanzielle Unterstützung von Flüchtlingen außerhalb Europas, eine bessere Eingliederung von Zuwanderern, die bereits in Dänemark leben. 2019 wurde Frederiksens Partei mit 25,9 Prozent stärkste Kraft und ließ sich als Minderheitsregierung von den Linksparteien des Roten Blocks tolerieren. 2022 wurden die Sozialdemokraten bei Neuwahlen mit 27,5 Prozent erneut stärkte Parlamentsfraktion, Frederiksen führt seither eine Mitte-Links-Regierung.

Mit ihren Konzepten gehören die dänischen Genossen zweifellos zu den kreativsten Problemlösern in Europa und lassen insbesondere die deutsche Sozialdemokratie mutlos und blass aussehen.






Holger Fuß ist Publizist und schreibt für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über Politik, Wissenschaft, Kultur und das Zeitgeschehen. 2019 erschien von ihm „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ (FinanzBuch Verlag).

www.m-vg.de