Als die Truppen des abtrünnigen Kriegsherren Jewgeni Prigoschin auf Moskau marschierten, glaubte die weißrussische Exilopposition für einige Stunden, der Tag X sei gekommen. So bezeichnen die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja, die 2020 aus Weißrussland geflohen war, nachdem Alexander Lukaschenko zum wiederholten Male die Präsidentschaftswahl manipuliert und anschließend massive Proteste rücksichtslos niedergeschlagen hatte, den Tag, an dem sie hoffen, den von Moskau unterstützten Diktator zu stürzen. Als die Nachricht von Prigoschins Meuterei die Runde machte, berief Tichanowskaja eine Videokonferenz ihres „Übergangskabinetts“ ein, das je zur Hälfte in Wilna und Warschau sitzt, um mit der Umsetzung des Plans für den Tag X zu beginnen.
Ihr Kabinett habe Kontakt zu einem weißrussischen Regiment aufgenommen, das als Teil der ukrainischen Armee kämpfe, und einen Plan zur Aktivierung von Partisanengruppen in Weißrussland ausgearbeitet, um eine Reihe von Aktionen durchzuführen, die darauf abzielen, das Regime zu lähmen, sagte Tichanowskaja.
Kurz darauf kam die zweite Überraschung, als bekannt wurde, dass Lukaschenko Vermittler zwischen Prigoschin und Putin war. Prigoschin kehrte seinen Truppen den Rücken, nachdem der unwahrscheinlichste aller Vermittler – Lukaschenko – ein Abkommen ausgehandelt hatte. Der weißrussische Staatschef gab bekannt, dass er den ganzen Tag über mit Prigoschin gesprochen habe, und behauptete, er habe den Söldnerunternehmer davon überzeugt, seinen Marsch auf Moskau abzubrechen sowie diesem und dessen Kämpfern der Wagner-Gruppe im Gegenzug sicheres Geleit ins weißrussische Exil gewährt. Die Ankündigung stieß auf Skepsis. Doch der Kreml bestätigte die Konturen des Abkommens, der Geheimdienst FSB ließ das Verfahren gegen Prigoschin fallen, und Wladimir Putin dankte Lukaschenko für seine Hilfe bei der Lösung der Krise. Dies alles kam einem bemerkenswerten politischen Coup für den weißrussischen Staatschef gleich.
Prahlerei im Fernsehen
Zwei Tage danach versammelte Lukaschenko in Minsk seine höchsten Sicherheitsbeamten zu einer im Fernsehen übertragenen ganztägigen Prahlerei, bei der er lange Anekdoten über den Verlauf der Verhandlungen erzählte. Einmal behauptete er sogar, er habe Putin überredet, Prigoschin zu töten. Erst im zweiten Ansatz habe er sich besonnen und Putin von der Tötungsabsicht abgebracht, denn danach wären die Wagner-Leute zu allem bereit gewesen, sagte Lukaschenko im Fernsehen.
Lukaschenko ist für seine Prahlerei bekannt, er behauptete sogar einmal, sein Vater sei im Zweiten Weltkrieg gefallen, neun Jahre vor seiner Geburt. Lukaschenko, der noch länger als Putin, nämlich seit 1994, an der Macht ist, war lange Zeit ein Verbündeter Russlands, aber ein unzuverlässiger Verbündeter, der Moskaus Geld annahm und gleichzeitig ständig versuchte, Allianzen im Westen zu festigen, um ein Gegengewicht zu einer drohenden vollständigen russischen Übernahme zu schaffen.
Dieser geschickte Balanceakt endete 2020, als Moskau Lukaschenko bei der Niederschlagung von Massenunruhen half. Seitdem ist Weißrussland faktisch zu einem Vasallenstaat Russlands geworden, und der Kreml hat 2022 weißrussisches Territorium als Aufmarschgebiet für seine Invasion in der Ukraine und als Basis für Truppen und Ausrüstung genutzt.
Putin hat sogar versprochen, in diesem Sommer russische Atomwaffen nach Weißrussland zu verlegen, was, wie viele Militärexperten befürchten, Russland einen Vorwand liefern könnte, zum Schutz der Waffen jederzeit Truppen hinterherzuschicken. All dies hat Lukaschenkos Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Seine jetzige Prahlerei mit seiner Rolle als Vermittler in der größten Krise Putins scheint der Wunsch zu sein, zu beweisen, dass er kein einfacher Lakaie von Putin mehr sei.


