„Ich wanderte nicht mehr“ – Mit diesem Satz endete Hans Ostwalds Schilderung einer 18-monatigen Wanderung durch die Welt der Handwerksburschen, der Tippelbrüder und der Entgleisten. Es war eine prägende Erfahrung, die er im Jahr 1900 in dem autobiographischen Roman „Vagabunden“ veröffentlichte.
Der 1873 in Berlin geborene Sohn eines Schmiedes hatte aus der Not eine Tugend gemacht, als er nach seiner Lehre zum Goldschmied keine Arbeit fand. Das Werk war ein großer Erfolg und begründete Ostwalds Ruf als Chronist der Unterschicht. Und als solcher hatte er keine Berührungsängste. Die durfte er für sein wichtigstes Werk auch nicht haben, die „Großstadt-Dokumente“, die er zwischen 1904 und 1908 herausgab – nach dem großen Erfolg seiner „Vagabunden“ hatte er sich als Schriftsteller in Berlin niedergelassen.
Diese 50-bändige Reihe war und ist ein Standardwerk zur (Sub-)Kulturgeschichte Berlins mit all ihren Facetten, all den eigenartigen Persönlichkeiten und Bevölkerungsschichten, den sittlichen und sozialen Zuständen.
Ostwald selbst machte mit „Dunkle Winkel in Berlin“ den Anfang, und dann bekamen Autoren wie Julius Bab, der Sexualforscher Dr. Magnus Hirschfeld oder auch der Kriminalschriftsteller Hans
Hyan die Gelegenheit, über menschliche Abgründe auszupacken. In diesen 50 Bänden wurde nichts ausgespart: Wohnungselend, Spieler, Kriminalität, Schwere Jungen, uneheliche Mütter, Mädchenhandel, Geisterbeschwörer.
Die Titelliste verstörte in der Kaiserzeit so manchen braven Bürger, der sowieso schon durch das rasante Wachstum seiner Stadt aufgeschreckt worden war. Dann boten ihm diese Bücher auch noch ein raues wie schillerndes Panorama seines Berlins. Leider zerstörte Ostwald später selbst den guten Eindruck, den er mit diesem bedeutenden Werk hinterlassen hatte, und trübte das, was danach gekommen war: vor allem die Zusammenarbeit mit dem Zeichner Heinrich Zille. 1933 erhielt er von einem Berliner Verlag den Auftrag, ein Buch über das Erntedankfest herauszugeben: der „deutsche Bauern Ehrentag“, und das war „eine einzige Verherrlichung Hitlers“, wie ein Ostwald-Biograph schrieb.
In der Folge versuchte Ostwald mehrmals, sich dem NS-Regime anzudienen. Doch durch seine Vergangenheit als Ethnograph des dunklen Berlins wurde er eher misstrauisch beäugt und als Schriftsteller von den neuen Machthabern nur noch geduldet. Ostwalds Karriere war somit vorbei, seine Publikationstätigkeit wurde bedeutungslos. Am 8. Februar 1940 starb er in Berlin an den Folgen eines Herzmuskelschadens.


