Denkt man an Schulrechtschreibung in der Nacht, so ist man um den Schlaf gebracht. Auch 25 Jahre nach der offiziellen Einführung neuer Rechtschreibregeln läßt der Erfolg der Rechtschreibreform auf sich warten. Seit dem 1. August 1998 ist in allen deutschen Bundesländern die Rechtschreibreform an den Schulen gültig. Einige Länder hatten sogar bereits zum Schuljahr 1996/97 die reformierten Regeln eingeführt.
Mit der Reform waren hohe Erwartungen verbunden. Einfacher sollte das Schreiben werden. Kinder aus Familien mit geringer Bildung sollten es leichter haben. Die Zahl der Rechtschreibfehler sollte drastisch sinken. So lauteten die Versprechungen der Reformer. Das Gegenteil ist eingetreten.
Der stetige Verfall der Rechtschreibleistungen bei Schülern ist nicht etwa einfach nur eine Sorge schlechtgelaunter alter weißer Männer, die wehmütig dem Untergang des Abendlandes entgegenwanken, sondern eine vielfach belegte Tatsache. Freilich haben dabei auch andere Reformen hineingewirkt wie das „Schreiben nach Gehör“. Mit dieser Methode, nach der immer noch an zahlreichen Grundschulen unterrichtet wird, prägen sich Schüler erst falsche Schreibweisen ein, die sie dann mühsam wieder verlernen müssen.
Die Erwartungen blieben unerfüllt
Eine wichtige Meßlatte für den Zustand der Rechtschreibung an den Schulen ist zum Beispiel der Bildungstrend des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Dieser IQB-Bildungstrend mißt alle fünf Jahre den Bildungsstand von Viertkläßlern in den Fächern Deutsch und Mathematik: 2011, 2016 und zuletzt 2021. Dabei geht es darum, inwieweit die Schüler die bundesweit geltenden Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz (KMK) erreichen. Im Kompetenzbereich der Orthographie sind die Ergebnisse am schlechtesten. 30,4 Prozent der Viertkläßler verfehlen die Mindeststandards, lediglich 44,4 Prozent erreichen die Regelstandards. In Berlin und Brandenburg verfehlt sogar fast jedes zweite Kind die Mindeststandards.
Auch frühere Untersuchungen haben bereits den Niedergang des Rechtschreibwissens seit 1998 nachgewiesen. Die DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International), eine Studie zur Erfassung der sprachlichen Leistungen in Deutsch und Englisch von Schülern an Schulen in Deutschland, ergab im Jahr 2007, daß nur noch 20 Prozent der Neuntkläßler in Deutschland die Rechtschreibung einigermaßen sicher beherrschen. In einer weiteren Untersuchung fand der Sprachwissenschaftler Wolfgang Steinig heraus, daß Viertkläßler im Jahr 1972 nur rund neun Fehler auf 100 Wörter machten. 2002 waren es hingegen zwölf, und 2012 waren es bereits 16. Warum haben dann Schüler im Schnitt heute kaum schlechtere Noten? Ganz einfach: Die Bewertungsmaßstäbe wurden heruntergesetzt. So kann man Fehlentwicklungen verstecken.
Der Germanist Uwe Grund wertete schon vor zehn Jahren mehrere Rechtschreib-Untersuchungen aus und kam zu dem Schluß, daß gerade die reformierten Bereiche der Orthographie die Zahl der Rechtschreibfehler erhöhen. Die Reformer hatten noch in den 1990er Jahren versprochen, daß das Schreiben einfacher und damit die Zahl der Fehler sinken werde. Mit diesem Ziel sind sie „krachend gescheitert“, wie Dankwart Guratzsch in der „Welt“ damals bemerkte. Sowohl in der neugeregelten Getrennt- und Zusammenschreibung als auch in der Groß- und Kleinschreibung hatten sich nämlich bei Sechstkläßlern die einschlägigen Fehler verdoppelt.
Selbst die scheinbar so logische neue s-Regel hat keine Verbesserung gebracht, sondern dort die Fehlerzahlen um 20 bis 30 Prozent steigen lassen. Diese von Johann Christian August Heyse Anfang des 19. Jahrhunderts erfundene Doppel-s-Schreibung hatte Österreich bereits 1879 eingeführt, aber schon 1902 wieder abgeschafft, weil sie sich nicht bewährt hatte. Heute ist die Heysesche s-Schreibung das Vorzeigestück der vermeintlich „neuen“ Rechtschreibung. Es bescherte uns so lesefeindliche Wörter wie Nussschokolade, Missstand oder Schlussstrich.
Die Wurzeln der Rechtschreibreform reichen weit zurück. Seit Bestehen der Bundesrepublik befaßte sich die KMK mit einer Reform der Rechtschreibung. Dabei griff man auf Pläne des nationalsozialistischen Reichserziehungsministers Bernhard Rust zurück. Dessen 1941 eingesetzte Orthographiekommission unterbreitete Vorschläge, die wiederum auf Vorarbeiten aus den 1930er Jahren zurückgingen. 1944 ordnete Adolf Hitler an, die Arbeiten an der Reform bis Kriegsende zurückzustellen. Damals wie heute ging es den Reformern darum, Fremdwörter in der Schreibweise einzudeutschen, mehr groß und auseinander zu schreiben und nach kurzem Selbstlaut ein Doppel-s zu verlangen.
1956 setzten die Kultusminister einen „Arbeitskreis für Rechtschreibregelung“ ein, der jedoch mit seinen „Wiesbadener Empfehlungen“ scheiterte. Mit der Gründung des „Instituts für deutsche Sprache“ (IdS) gibt es 1964 einen ersten staatlich geförderten Stützpunkt für die Reformer. Heute ist dort der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ angesiedelt. 1973 stimmt die KMK zunächst einer gemäßigten Neuschreibung zu. Wegen des Widerstandes einzelner Kultusminister verschwand diese Reform wieder in den Aktenschränken. 1977 wird am IdS die „Kommission für Rechtschreibfragen“ gegründet. Zehn Jahre später beauftragen die KMK und das Bundesinnenministerium das IdS und die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), Vorschläge für eine Rechtschreibreform zu erarbeiten. Der erste Entwurf von 1988, der versehentlich an die Öffentlichkeit gelangt, ruft Kopfschütteln und Gelächter hervor: „Der Kapiten gedänkt Ale zu fangen.“
Der Volkswille spielte keine Rolle
Nach drei internationalen Konferenzen 1986, 1990 und 1994 in Wien erfuhr die Öffentlichkeit durch die „Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung“ im Dezember 1994 von der Dudenredaktion erstmals einige Einzelheiten der geplanten Reform. Im Dezember 1995 stimmten die KMK und die Ministerpräsidenten zu, verlangten jedoch Nachbesserungen. Deswegen mußte die bereits gedruckte Duden-Auflage eingestampft werden. Am 1. Juli 1996 unterzeichneten Vertreter aus acht Staaten die „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“. Nur einen Tag später erschien das Rechtschreibwörterbuch von Bertelsmann, das der Verlag an alle 40.000 deutschen Schulen verschenkte. Der neue Duden, dessen Privileg durch die Neuregelung aufgehoben ist, kam erst Ende August heraus.
Erst die Wörterbücher, die sich bei der Auslegung der Reformregeln teilweise widersprachen, verdeutlichten der breiten Öffentlichkeit das katastrophale Ausmaß der Reform. Drei Viertel der Deutschen lehnten in repräsentativen Umfragen die Reform ab. Zahlreiche Bürgerinitiativen gründeten sich. 1998 unterzeichneten über 300 Intellektuelle auf der Buchmesse auf Initiative des Deutschlehrers Friedrich Denk die „Frankfurter Erklärung“ gegen die Reform. Sogar der Deutsche Bundestag sprach sich gegen die Reform aus und beschloß: „Die Sprache gehört dem Volk!“
Doch der Volkswille spielte keine Rolle. Ein Volksentscheid in Schleswig-Holstein, der im September 1998 die Rechtschreibreform in diesem Bundesland aufhob, wurde sogar ein Jahr später vom Landtag einstimmig rückgängig gemacht. Als 2004 mehrere Verlage aus der Rechtschreibreform ausstiegen, löste die KMK die Rechtschreibkommission auf und setzte den Rat für deutsche Rechtschreibung ein. Dieser rettete mit einer Reform der Reform die Neuregelung.
Die Erfahrung, daß die Politik gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit handelt, hat bei vielen das Vertrauen in die Demokratie, so wie sie in Deutschland praktiziert wird, nachhaltig erschüttert. So verwundert es niemanden mehr, daß der Rechtschreibrat auch heute wieder gegen den Willen der Mehrheit daran arbeitet, die Rechtschreibung zu verändern. Heute steht die Reform unter dem Zeichen des Gendersterns. Dieser soll als typographisches Sonderzeichen durch die Hintertür in die Schulorthographie aufgenommen werden, obwohl auch heute wieder die Mehrheit dagegen ist.
Thomas Paulwitz ist Chefredakteur der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“ und Vorsitzender der Theo-Münch-Stiftung für die Deutsche Sprache.


