Als schlimmste Folge der verlorenen Eintracht während der französischen Bürgerkriege im späten 16. Jahrhunderts erachtete es der Jurist, Skeptiker, Philosoph, Humanist und Begründer der Essayistik Michel de Montaigne, dass man vom politisch-ideologischen Feind nicht einmal mehr sagen dürfe, er habe doch ein schönes Bein. Er wehrte sich gegen totale Feindschaft und totale Selbstgerechtigkeit. Wer über Walter Ulbricht, vor fünfzig Jahren, am 1. August 1973, gestorben, schreiben will, befindet sich in unseren ideologisch aufgeregten und moralisch hochgerüsteten Zeiten in ähnlicher Lage.
Selbstverständlich ging der Parteimann Ulbricht unnachsichtig mit denen um, die er verdächtigte, von der gebotenen Linientreue abzuweichen. Dabei musste er selbst je nach den Zeitumständen und Kurswechseln in Moskau manch überraschende, neue Wege einschlagen. Er verfügte über eine erstaunliche Elastizität und Geistesgegenwart wegen einer ungewöhnlichen Schnelligkeit des Denkens, die es ihm erlaubte, wie ein Husar vorwärtszustürmen, die Attacke den jeweiligen Erfordernissen anpassend. An Mut gebrach es ihm nie.
Unnachsichtiges Vorgehen
Auf diese Weise überstand er auch äußerst kritische Situationen, in denen nicht so wendige Gemüter verzagten und oft genug ihren Kopf verloren. Walter Ulbricht verstand es, mit sich und der reinen Lehre dennoch stets im Einklang zu bleiben. Widersprüche sind bei revolutionären Umwälzungen in der Geschichte, wie er wusste, unvermeidlich; es kam nur darauf an, sie richtig zu deuten und systematisch zu ordnen.
Dazu war er in der Lage, weil er als immer beweglicher Aktivist auch ein denkender Berufsrevolutionär sein wollte, der sich nicht von den Ereignissen treiben lässt, sondern sie geschmeidig nutzt zu seinem Vorteil und für das große Ziel, in der sozialistischen Gesellschaft den wahren Menschen, den vom Sozialismus begeisterten, schaffen zu können. Dieser neue Mensch unterschied sich in der Idee nicht grundsätzlich von dem allseits gebildeten Deutschen, wie ihn sich die Bildungsenthusiasten um 1800 dachten. Bürgerliche Freiheit im Staat hielten sie nur für möglich, wenn alle Einzelnen zur inneren Freiheit, der Voraussetzung für tätige Tüchtigkeit, gelangten.
Gebildet, wissbegierig und fleißig
Walter Ulbricht, der Sohn eines Schneiders, verdankte seine geistige Erziehung dem Arbeiterbildungsverein vor dem Ersten Weltkrieg. An der sittlich-ästhetischen Bildung des Bürgertums sollten auch die Kleinbürger und Arbeiter ihren Anteil haben, um sich zu humanisieren und in der Nationalkultur heimisch zu werden. Schon seine Eltern waren von dem Wunsch nach Bildung durchdrungen. Zuhause wurde kein „Schund“ gelesen. Die Absicht war, vom frei machenden Geist der deutschen Klassik und Romantik geformt, Herr seiner selbst zu werden und dazu befähigt, gesellschaftlichen Aufgaben gerecht zu werden. Ulbrichts Wahlspruch war: „Vorwärts sehen, vorwärts streben,/ keinen Raum der Schwäche geben, / Schönem, Edlen allzeit hold“. Daran hat sich nie etwas geändert.
Sein politisches Tun und Handeln verbindet man nicht mit solchen schöngeistigen Absichten. Das gehört zu den Widersprüchen in unübersichtlichen Zeiten.
Ulbricht war fleißig und wissbegierig, er las Goethe und Schiller, lernte deren Gedichte auswendig, besuchte Museen, beschäftigte sich mit Geschichte, auch mit Kulturgeschichte, interessierte sich für Städtebau, liebte die Musik der Wiener Klassik. Oper, Konzert und Schauspiel gehörten lebenslang zu seinen unentbehrlichen Genüssen.
Neue sozialistische Nationalkultur
Seine nationale Mission sah er später darin, die Reichtümer deutscher Kunst und Kultur in die Schatzkammern des Sozialismus zu überführen. Der unermüdliche Leser hielt alle dazu an, Bücher als Lebensmittel zu begreifen, und in der DDR als Leseland sämtlichen Deutschen ein Vorbild zu sein. Er fand dafür Mitstreiter unter Künstlern und Wissenschaftlern. Immerhin ein Dichter – Johannes R. Becher – wurde 1954 sein erster Kulturminister. Von vornherein gab es erhebliche Spannungen zwischen dem Parteigeist und dem Geist der Freiheit, mit persönlichen Schicksalen verbunden und Eingriffen in die freie Entwicklung von Kunst und Wissenschaft und deren Institutionen. Aber die Bemühungen auf der Grundlage des Sozialismus die neue sozialistische Nationalkultur zu ermöglichen, blieben keine unverbindlichen Redensarten. Sie entsprachen nach einem besiegten, weil unwahren nationalen Sozialismus Hoffnungen auf ein „neues Deutschland“, das zu seiner nationalen Wiedergeburt finden könne, indem es sich ein großes Erbe aneigne, um es schöpferisch zu besitzen, sich in dessen Geist zu regen und von ihm angeregt auf neue Gestaltung – Umgestaltung im Sinne Goethes zu kommen.
Die Erbepflege war ein bemerkenswerter Versuch, geschichtskräftig in der Gegenwart zu wirken und gerade alles Neue als fruchtbare Fortsetzung deutscher Überlieferungen zu wagen. Sich bewusst in eine weit zurückreichende Tradition zu stellen, hatte nichts mit bürgerlichem Traditionalismus zu tun und seinem unverbindlichen, verspielten Historismus. Was nicht zusammenhängt mit einem notwendigen historischen Prozess, galt nur als Formalismus oder substanzloses Spiel. Insofern war der Sozialismus, Teil des historischen Prozesses, in dem sich die Weltvernunft entwickelt, seinem Selbstverständnis nach kein Feind der Geschichte. Vielmehr vollendet sich in ihm die nationale Kultur, die das Werk des deutschen Volkes und des deutschen Geistes ist. Hätten Deutsche nicht leichtsinnig das Erbe Goethes und Schillers verspielt, wäre es nie zu dem Irrtum des nationalen Sozialismus gekommen, der Deutsche und Deutschland in die Katastrophe führte. Die deutsche Renaissance, das deutsche Auferstehen hing für Ulbricht unmittelbar mit der Nation zusammen. Die „deutsche Bewegung“ zwischen 1750 und 1832, die sogenannte Goethezeit, in der Kunst, Wissenschaft und politisches Denken das gesamte Leben erneuerten und veränderten, galt als Vorläufer der sozialistischen Nationalkultur wie sie Walter Ulbricht und Johannes R. Becher auffassten.
Marxisten sprachen vorzugsweise von Gesellschaft. Deutsche Besonderheiten nach 1945 nötigten dazu, Gesellschaft, Volk und Nation nicht zu trennen. Das gespaltene Deutschland, die Überreste des Deutschen Reichs, vielleicht auch wieder vereinigt mit Österreich, sollten wieder ein Ganzes werden, ein Ganzes im Geiste bleiben, nicht zuletzt, weil vereint durch dieselbe Sprache und denselben „Volksgeist“, der nur von Unklarheiten gereinigt werden muss. Im Gegensatz zu Westdeutschen, die nach dem Willen manches rheinischen Politikers lernen sollten, Volk, Vaterland oder Nation gering zu schätzen, beharrten die Pfleger des gemeinsamen, deutschen Erbes in der DDR noch lange auf dem, was – in Anlehnung an Schiller – „deutsche Größe“ ausmacht, nämlich in das Geisterreich zu dringen, sich all das anzuverwandeln, von dem die Stimmen und Kulturen der Völker reden, sodass die deutsche Nationalkultur in sich das Erbe vieler vereinigt. Die Nationalkultur in diesem Sinne ist gar nichts selbstgenügsames, sondern ein anspruchsvolles Programm, das Westdeutsche nie verstanden haben, die von ihrer Geschichte nicht weiter belästigt werden wollten.
„Deutschland, einig Vaterland“
In der DDR wurde hingegen gesamtdeutsch gedacht. Genosse Josef Stalin hatte nie daran gezweifelt, wahrscheinlich auch darauf gehofft, dass Deutschland und das deutsche Volk nicht untergehen werden. Er erinnerte immer wieder daran, dass Sozialismus und Nation einander wechselseitig bedürfen: Die Nation gewährt die Form, der Sozialismus verleiht den Inhalt. Trotz mancher Schwankungen erhielt sich in der DDR die Vorstellung vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus. Diese positive Deutung eines deutschen Sonderweges in der Geschichte widersprach vollständig der westdeutschen Ideologie, dass gerade deutsche Sonderwege von der dringend gebotenen Verwestlichung, Europäisierung und Demokratisierung abgelenkt und alles Deutsche schlechthin zum Problem gemacht hätten. Die Protagonisten der Westbindung flüchteten aus ihrer Geschichte in Fiktionen, heute als „westliche Wertegemeinschaft“ stürmisch gepflegt. Die Versuche, Gemeinsamkeiten zu pflegen trotz der politischen Gegensätze, auf die sie in ihren jeweiligen ideologischen Blöcken verpflichtet wurden, verstanden sie als Versuchungen, sie zu verlocken, vom einzig wahren Weg, dem der Verwestlichung, abzuweichen. Die wahren Deutschen konnten nur noch Westdeutsche sein.
Nicht alle Westdeutsche dachten so. Doch den wenigen, die im Bonner Rheinbund überlegten, wie die nationale Einigkeit trotz aller Widerstände erhalten werden könne, wurde gereizt empfohlen, dann gleich „hinüber“ zu gehen in „den Osten“. Begriffe wie Deutschland, deutsche Kultur und deutsche Sprache verloren im Westen ihre historisch-vertiefte Bedeutung und bindende Kraft. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) und die ihr zugeordneten „bürgerlichen Parteien“, alle zusammen der „Block kämpferischer Demokratie“, konnten auf die Nation und die Nationalkultur nicht verzichten, weil sie gesamtdeutsch dachten in der Hoffnung auf „Deutschland, einig Vaterland“, wie es in Bechers Nationalhymne hieß, entworfen für ein künftiges wieder vereinigtes Vaterland, durchaus zu singen auf Haydns Melodie. Die Westdeutschen reagierten darauf zunehmend gereizt, schon lange vor der „Wende“, die sie als Sieg und Triumph empfanden und nicht als Aufgabe, zusammen ein „einig Vaterland“ neu zu bilden. Sie haben aus Deutschen, die Deutsche sein und bleiben wollten, „Ostdeutsche“ gemacht, die sie nie waren. Der Westen spaltet. Johannes R. Becher war der letzte deutsche Dichter, der vaterländische Gedichte schrieb und bewusst als nationaler Dichter wirken wollte.
Walter Ulbricht, ungeachtet seiner erheblichen parteipolitischen Einseitigkeiten, verstand sich immer als denkender, deutscher, sozialistischer Staatsmann. Solche Selbsteinschätzungen galten als skandalös und werden erstrecht in dem „erweiterten Westdeutschland“, das ein einig Vaterland ersetzen soll, so empfunden und verurteilt.


