Eine der Partnerstädte der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel ist seit 1992 Königsberg, die alte Krönungsstadt der preußischen Könige, allerdings von den Kieler Kommunalpolitikern stets als „Kaliningrad“ bezeichnet. Seit dem
24. Februar 2022 ruhen diese Kontakte von offizieller Seite, jedoch ist die Städtepartnerschaft nicht aufgehoben, wie die Netzseite der Landeshauptstadt ausdrücklich hervorhebt. In diesem Sinne hatte der Stadtpräsident Kiels die zivilgesellschaftlichen Organisationen und privaten Initiativen ermuntert, die guten Verbindungen nach Königsberg, trotz der derzeitigen Kriegslage, durch Besuche und Gespräche aufrechtzuerhalten.
Um die einst sehr engen Verknüpfungen von Kultureinrichtungen und weiteren Organisationen Kiels mit den russischen Partnern in Königsberg nicht ganz abreißen zu lassen, entsandte die Deutsch-Russische Gesellschaft Kiel im April 2023 eine Delegation in die Stadt am Pregel, bestehend auch aus Mitgliedern des in der deutsch-russischen Kulturarbeit engagierten Kieler Zarenvereins, um dort auf russischer Seite mit ihrer Partnerorganisation Gespräche zu führen und Möglichkeiten weiterer Zusammenarbeit unter den gegenwärtig erschwerten Bedingungen auszuloten.
Da die direkten öffentlichen Verkehrsverbindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Russland von Berlin gekappt wurden, flogen wir zunächst von Hamburg nach Danzig. Von Danzig fährt täglich ein russischer Linienbus nach Königsberg und auch in umgekehrter Richtung.
Offenbar müssen sich die Polen nicht an die Beschlüsse der EU halten, während Berlin wieder einmal gründlichst im vorauseilenden Gehorsam sämtliche Reisemöglichkeiten nach Russland unterbunden hat, was leider auch zu vielfachem Familienleid führt. Die Grenzabfertigung an der polnisch-russischen Grenze im inneren Ostpreußens erfolgte sowohl auf der Hin- wie auf der Rückfahrt mit der auch vor 2022 üblichen Wartezeit, also völlig unproblematisch.
Unproblematische Abfertigung
In Königsberg erwartete uns ein umfangreiches Besichtigungsprogramm unter jeweils kompetenter akademischer Führung. Zudem trafen wir uns mit einer Reihe von offiziellen und zivilgesellschaftlichen Vertretern der Stadt und der Oblast Kaliningrad. Alle Begegnungen verliefen in sehr herzlicher, freundschaftlicher Atmosphäre, sodass auf beiden Seiten das tiefe Bedauern über die gegenwärtige Zerrüttung des deutsch-russischen Ver-hältnisses immer wieder spürbar wurde. Mehrfach begrüßte man uns mit der wehmutsvollen Bemerkung, wir seien die erste deutsche Besuchergruppe seit drei Jahren. Corona und der Krieg in der Ukraine haben zu einem faktischen Versiegen der in früheren Jahren so zahlreichen deutschen Besucherströme geführt. Aber auch überraschtes Staunen wurde uns entgegengebracht, weil viele Russen glaubten, es sei Deutschen verboten, russisches Staatsgebiet zu besuchen.
Uns wurde, besonders auffällig bei der Stadt- und der Hafenrundfahrt, immer wieder die deutsche Vergangenheit des jetzt russischen Königsbergs mit größter historischer Sachkenntnis geschildert. Auf jedes alte deutsche Gebäude machte man uns mit ausführlichsten Kommentierungen aufmerksam. Selbst scheinbar nebensächliche Alltagsgegenstände aus deutscher Zeit werden in Königsberg von den Russen in höchsten Ehren gehalten.
Seit meinem letzten Besuch der alten Hauptstadt Ostpreußens im Jahre 2012 hat sich das Stadtbild enorm zum Positiven gewandelt. Königsberg darf ohne Übertreibung als eine moderne, touristenfreundliche Metropole bezeichnet werden, die auch mit ihrer neuen, der postsowjetischen Architektur, als Stadt mit großer Vergangenheit einen gewissen historisierenden Charme aufweist. Natürlich beherrschen die hässlichen Plattenbauten der sowjetischen Epoche immer noch etliche Straßenzüge Königsbergs. Es fällt allerdings positiv auf, dass bei der Sanierung dieser Gebäude, aber vor allem bei den zahlreichen Neubauten nach 1992, die Städteplaner bewusst darauf achteten, architektonische Zitate der ehemaligen Hansestadt und Handelsmetropole Königsberg zu verwenden: beispielsweise kleinteilige Giebel selbst auf Hochhäusern und rote Backsteinfassaden.
Es scheint auch, dass mittlerweile fast alle Gebäude, die den englischen Bombenterror vom 30. August 1944 und die Endkämpfe zwischen Wehrmacht und Roter Armee im April 1945 überstanden haben, saniert wurden. Auch komplett zerstörte und verschwundene deutsche Gebäude wurden vereinzelt wiedererrichtet, wie etwa die Synagoge neben dem ebenfalls wiederhergestellten ehemaligen jüdischen Waisenhaus. Durchaus vorzeigbare Ergebnisse sanierter Häuser aus deutscher Zeit sind besonders im Villenviertel Amalienau vorzufinden, das noch vor gut zehn Jahren größtenteils verfallen und abrissbedroht schien. Dort haben sich inzwischen wohlhabende Russen eingekauft oder Vertretungen auswärtiger Staaten ihre Konsulatsgebäude eingerichtet. Denkt man sich dann noch die russische Beschriftung der Straßenschilder weg, könnte man meinen, man befände sich im Kieler Villenviertel „Düsternbrook“.
Deutsche Vergangenheit ist sichtbar
Der von unserer Gruppe vorab geäußerte Wunsch, auch Kiels zweite ostpreußisch-russische Partnerstadt Tilsit zu besuchen, wurde zunächst von unseren Gastgebern mit Bedauern abgelehnt, da sich die Stadt an der Memel als Grenzstadt zum NATO-Land Litauen seit 2022 in einer besonderen militärischen Lage befände und für Ausländer gesperrt sei. Nach wiederholten Bitten unsererseits konnten diese Bedenken jedoch zerstreut werden.
Der Besuch der Stadt an der Memel wurde durch zahlreiche Impressionen und Fotomotive zur (ost-)preußischen Geschichte, die einem in Tilsit fast auf Schritt und Tritt begegnen, belohnt. Das von den Russen wiederhergestellte Portal der Königin-Luise-Brücke und der Gedenkstein an den „Schandfrieden“ von Tilsit 1807, der bereits hundert Jahre zuvor einen Vorgeschmack dessen lieferte, was Frankreich schließlich im Versailler Vertrag für das gesamte Deutsche Reich 1919 mitdiktierte, sowie das von russischen Bildhauern neu geschaffene und 2014 aufgestellte Denkmal der Königin Luise, deren Freundschaft mit Zar Alexander I. eine Epoche engster familiärer Bande zwischen den Romanows und den Hohenzollern einleitete, die erst mit den beiden Revolutionen in Deutschland und Russland endeten, sind starke, sichtbare Symbole der im 19. Jahrhundert so positiv geprägten deutsch-russischen Geschichte, an die man 1990 anzuknüpfen bemüht war. Doch die positiven Ergebnisse dieser zumindest für Westdeutschland wiederbelebten deutsch-russischen Freundschaft – in der DDR war sie ohnehin Staatsräson – wurden durch raumfremde Einflüsse und deren Interessen bereits 15 Jahre später wieder zerstört.
Besuch in der ehemaligen katholischen Kirche am Oberhaberberg: Heute befindet sich hier die PhilharmonieFoto: Stange
Wegen der Nachbarschaft zum NATO-Staat Litauen eigentlich für Touristen gesperrt: Die Königin-Luise-Brücke in TilsitFoto: Stange
Unsere Gastgeber begleiteten uns ebenfalls zu den für die deutsch-russische Geschichte stark symbolisch wirkenden Schlachtfeldern von Groß-Jägersdorf und Preußisch-Eylau. In Groß-Jägersdorf besiegten die Russen im Siebenjährigen Krieg unter ihrem General Apraxin den preußischen Generalfeldmarschall Lehwaldt am 30. August 1757 und leiteten damit die fünf Jahre andauernde, durchaus nicht unangenehme russische Besatzung Ostpreußens ein. Ein dort in deutscher Zeit errichtetes Denkmal wurde mit russischen Inschriften versehen und zwei Kreuze, eines davon in der russisch-orthodoxen Ausführung, erinnern an die preußischen und russischen Gefallenen dieser Schlacht.
Ehrung preußischer Armeeführer
In Preußisch-Eylau scheiterte Napoleon im Februar 1807 zum ersten Mal daran, einen Sieg gegen Preußen zu erringen, das hier mit den Russen vereint gegen den französischen Eindringling standhielt. Es war der Auftakt für die am 30. Dezember 1812 bei Tauroggen geschlossene Waffenbrüderschaft Preußens mit Russland, die den Hauptanteil dazu beitrug, dass Europa von den verheerenden Kriegen und Besetzungen durch die Franzosen befreit wurde.
Das während des deutschen Kaiserreiches errichtete Denkmal für den preußischen General Anton Wilhelm von L’Estocq, der die Preußen anführte, wurde von den Russen dort umfangreich restauriert. Jeweils am Jahrestag der Schlacht erweisen die Russen dem preußischen General mit einem Blumengebinde, versehen mit dem russischen Doppeladler, die Ehre. Dass solcherlei Ehrung preußischer Armeeführer im heutigen Deutschland nicht mehr üblich ist, musste uns als deutsche Besucher der Gedenkstätte zutiefst beschämen, zumal wir uns überzeugen durften, mit welch hohem Respekt und wie engagiert die Russen besonders die Relikte preußischer Militärgeschichte pflegen.
Weitere Besichtigungsorte unseres Aufenthaltes im nördlichen Ostpreußen waren der Bernsteintagebau in Palmnicken, die Seebäder Rauschen und Cranz sowie die Kurische Nehrung, auf der wir zwei der dort auf russischer Seite lebenden 16 Elche in freier Natur zu sehen bekamen.
Kulturelle Höhepunkte waren der Besuch zweier Konzerte in der heute „Philharmonie“ genannten ehemaligen Neuen Katholischen Kirche „Zur Heiligen Familie“ am Oberhaberberg. Im Krieg nur leicht beschädigt, diente die Kirche 1945 als Lazarett sowohl für sowjetische als auch für deutsche Soldaten. „Im Schmerz vereint“, wie heute versöhnlich von russischer Seite betont wird. Noch zur Sowjetzeit wurde die Kirche 1980 umfangreich saniert, und anlässlich ihrer neuen Bestimmung als Konzerthalle erhielt sie 1982 eine Orgel der traditionsreichen Orgelbaufirma Rieger-Kloss.
Wir hatten während unserer Reise nach Königsberg außerdem das Glück, am
299. Geburtstag des bedeutenden Sohnes dieser Stadt, Immanuel Kant, an einer kleinen Feierstunde am Grab neben dem Dom teilzunehmen. Königsberg im April 2023 fiebert gewissermaßen schon dem großen Kant-Jubiläumsjahr 2024 entgegen, wenn die Russen dem deutschen Philosophen zu seinem 300. Geburtstag eine beachtliche Würdigung mit umfangreichen Veranstaltungen unterschiedlichster Formate zuteil werden lassen. Man kann nur hoffen, dass sich die deutschen Kantianer auf des großen Philosophen Werk „Zum ewigen Frieden“ besinnen und ihrerseits die Gelegenheit nutzen werden, an den verschiedenen Tagungsangeboten im russischen Königsberg teilzunehmen, um damit dem Frieden zu dienen und sich nicht der Diskussionsbereitschaft durch Boykott zu entziehen, wie von manchen Funktionären aus bundesdeutschen Kantgesellschaften bereits jetzt zu vernehmen ist. Gesprächsbereitschaft und das Anhören auch unbequemer Meinungen, um darüber eventuell eine sachlich-vernünftige Diskussion zu führen, wären ganz im Sinne Kants, wie überhaupt die nochmalige aufmerksame Lektüre seines Werkes „Zum ewigen Frieden“ eine rational-logische Sichtweise in Bezug auf die derzeitige konfrontative Lage in Europa vermittelt, die jedem nur dringend empfohlen werden kann.


