Sprachinseln haftet normalerweise der Ruf des Rückständigen, Antiquierten an. In Osteuropa gab es einst viele davon, bedingt durch die nicht geschlossene deutsche Ostsiedlung. Aber im Gefolge von Krieg und Vertreibung sind sie dort fast alle verschwunden. Nur in Norditalien, wo es deutsche Sprachinseln seit den Zeiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gibt, zu dem halb Italien gehörte, oder auch in Brasilien haben noch einige überlebt und erleben sogar eine Renaissance.
Zahre ist eine davon und mit 1400 Meter Höhe der höchstgelegene Ort im norditalienischen Friaul. Der Weiler von 400 Einwohnern besteht aus drei Ortsteilen: Oberzahre, im Dialekt Plotzn genannt, Unterzahre, auch Dörf genannt, und Lateis. Zur dortigen Traditionspflege gehört auch die Pflege des altbayerischen Dialekts des Ortes. Im vergangenen Frühjahr wurde Zahre von der Tourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO) als eines der „besten touristischen Dörfer“ ausgezeichnet, weltweit verlieh sie diesen Titel nur an 32 Orte. Zahre liegt im obersten Val Lumiei in der Region Karnien in Friaul-Julisch Venetien.
Besiedelt wurde das Dorf in der Mitte des 13. Jahrhunderts von deutschen Siedlern aus Osttirol, Bayern und Kärnten. Der erste dokumentierte Nachweis der Ortschaft stammt aus dem Jahr 1280. Ab 1420, als Friaul zur Republik Venedig kam, wurden die Wälder für die auf Holzpfählen errichtete Lagunenstadt gefällt. Ab dieser Zeit wurden Wiesen und Weiden, die Almwirtschaft, der Haupterwerbszweig der Bewohner.
Jahrhunderte fast völlig isoliert
Die Abgeschiedenheit und die karge Landschaft haben dazu beigetragen, die Kultur und deutsche Sprache von Zahre zu erhalten. Dennoch hatten sich mit der Zeit auch zwei andere Sprachen in dem Ort verbreitet, nämlich Furlanisch/Friaulisch, eine mit vielen slawischen Elementen durchsetzte rätoromanische Sprache, und zuletzt das Italienische. Vorherrschend in dem auf Tradition bedachten Ort ist jedoch noch immer das Zahrische, ein mit vielen altbayerischen und kärntnerischen Elementen durchsetzter deutscher Dialekt. Wenn die Einwohner „de Zahraer Sproch“ sprechen oder ihre Lieder singen, dann kann man das als Deutscher ganz gut verstehen. Das mittlerweile gut erforschte Idiom entstand aus dem Mittelhochdeutschen und zeigt Einflüsse von Tiroler und Kärntner Dialekten mit romanischen Einsprengseln. Der Dialekt wird heute auch wieder offiziell in der Volksschule von Zahre gelehrt und vom italienischen Staat geschützt.
Dass der kleine isolierte Ort, dessen nächstgelegener deutschsprachiger Nachbarort 80 Straßenkilometer entfernt liegt, seine deutsche Sprache bewahren konnte, verdankt er seiner Abgelegenheit. Man erreicht Zahre vom letzten italienischsprachigen Ort aus erst nach einer etwa 15 Kilometer langen kurvenreichen Straße mit einigen Felsentunneln und einer Holzbrücke über einen Wildbach. Bis zum Bau dieser Tunnel und der Brücke war Zahre nahezu vollkommen von der Außenwelt abgeschottet. Gerade diese Abgeschiedenheit macht heute jedoch das touristische Potential aus. Deshalb gehört Zahre auch der Vereinigung der „authentischen Dörfer“ Italiens an, ebenso wie dem Verband „Alpine Pearls“ und dem Einheitskomitee der historischen deutschen Sprachinseln in Norditalien. In Zahre kann man eine vollendete Mischung aus Geschichte, kulturellen Traditionen und märchenhaften Landschaften finden. Dazu kommt die einzigartige Gastfreundschaft der Einwohner vor der malerischen Kulisse der friaulischen Alpen.
Geniales Konzept rettete das Dorf
Das geschichtliche und kulturelle Erbe von Zahre wird im Museum aufbewahrt, ist aber gleichzeitig noch im Ort überall lebendig. Seine Naturkulisse aus grünen Wäldern und majestätischen schneebedeckten Berggipfeln, die sich stimmungsvoll in einem Stausee spiegeln, ist das eigentliche Potential des Ortes. Dazu kommt der Fleiß der 400 Einwohner, die 52 Unternehmen betreiben. Der Weiler lebt neben dem Tourismus von einem Sägewerk, einer Käserei, einer Brauerei und der Schinkenfirma Wolf, letztere ist der größte Arbeitgeber in Zahre. Der gute Schinken hat den Ort in der Umgebung bekannt gemacht. Um mehr jüngere Touristen für das Bergdorf zu begeistern, eröffnete man 2020 eine der spektakulärsten Ziplines Europas über dem Stausee.
Schlüssel für den touristischen Erfolg war das Konzept des „Albergo Diffuso“ – wörtlich übersetzt: verstreute Herberge. Dieses geniale Übernachtungskonzept wurde von dem Architekt Piero Gremese aus Udine in den 1980er Jahren entwickelt. Den Besitzern der beim Erdbeben von 1976 zerstörten oder baufälligen Gebäude wurde damals angeboten, die Häuser auf Kosten von Gemeinde und Region wiederaufzubauen. Im Gegenzug mussten sie die Häuser oder zumindest Teile davon für eine festgelegte Zeit zur Vermietung an Touristen bereitstellen.
Da der ganze Ort von dem Erdbeben betroffen war, wurde ganz Zahre zum Hotel. So entstand ein innovativer, auch auf die Bedürfnisse der Einheimischen angelegter Tourismus, der gleichzeitig den Wiederaufbau des Dorfes gesichert hat. Das Konzept hat wesentlich dazu beigetragen, dass Zahre heute wieder so aussieht wie vor dem Erdbeben, aber darüber hinaus auch für ein eventuell kommendes Erdbeben besser gewappnet ist.


