Es ist niemals eine schöne Erfahrung, wenn hässliche Wahrheiten ans Licht dringen. Traurig überdies wird es für all jene, für welche die Wahrheit zu spät herauskommt. Am 23. Juli verstarb Martin Walser, den man den „letzten deutschen Großschriftsteller“ nannte. Vor genau 25 Jahren, im Oktober 1998, sorgte Walser für erheblichen Wirbel in Deutschland, als er in einer spektakulären Rede hinsichtlich der NS-Judenvernichtung die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ anprangerte.
Ihm wurde vorgeworfen, den Holocaust aus der Erinnerung tilgen zu wollen, was selbstverständlich Quatsch war. Was er vielmehr ins Visier nahm, waren jene Leute, die die NS-Verbrechen als Keule gebrauchen, um wahllos politische Gegner moralisch niederzustrecken. Also Typen, denen es nicht so sehr um das „Nie wieder!“ geht, sondern darum, mithilfe abgrundtiefer Unterstellungen Punktgewinne im Hier und Jetzt zu erzielen.
Mit dieser im Volksmund „Nazikeule“ genannten moralischen Waffe wurde auch auf jene Deutschen eingedroschen, welche 2015 so gar nicht einverstanden sein wollten mit der großartigen Grenzöffnung durch Kanzlerin Merkel, während das „helle Deutschland“ (Joachim Gauck) ganz aus dem Häuschen war vor Begeisterung über die eine oder zwei Millionen Asylsucher, die ungehindert und an Bahnhöfen frenetisch bejubelt ins Land schwappten.
Katrin Göring Eckardt schenkte dem „Refugees welcome“-Taumel die euphorische Losung: „Wir bekommen eine Million Menschen geschenkt!“ In der Tat kamen (zumindest bis zu diesem Jahr) nie zuvor und nie danach so viele Menschen auf einmal zu uns aus dem Orient, wo eine besonders kräftige Version des Islam weit verbreitet ist – was erwartungsgemäß auch für einen Großteil der „Geschenkten“ gilt. War das nicht toll?
Aber sicher, auch wenn wir nicht so genau wussten, was unter der Hülle der Präsente so alles rumort. Das hat sich schlagartig geändert, denn der Weltgeschichte hat es gefallen, heute, also acht Jahre später, die Geschenke endlich auszupacken.
Seit Tagen wälzt sich der Judenhass durch unsere Straßen. Judenhass? Wir dachten, „Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz“? Die können was erleben, diese Judenhasser! Stündlich erwarten wir das Donnerwetter all der Künstler und Intellektuellen, die sonst noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit tapfer die Stimme erhoben haben „gegen den Hass“ und „gegen Rassismus und Antisemitismus“.
Und warten. Und warten. Und warten. Frédéric Schwilden von der „Welt am Sonntag“ wurde es irgendwann zu lang mit dem Warten, weshalb der Kollege eine Reihe jener bislang besonders lautstarken Künstler und „Influencer“ angeschrieben hat, um ihnen eine kurze Solidaritätsadresse zu entlocken. Es sollte „nur um die Solidarität mit Juden“ gehen. „Ein, zwei Sätze reichen, schrieb ich“, so Schwilden.
Die Bitte ging unter anderem an die Bands „Deichkind“, „K.I.Z.“, „Kraftklub“, deren Manager allesamt „leider absagen“ mussten. Das Management des bisher leidenschaftlich politisch engagierten Sängers Marius Müller-Westernhagen konnte „aus zeitlichen Gründen“ der Anfrage „nicht nachkommen“. „Absagen“ mussten auch die Manager der TV-Größen Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf („Joko und Klaas“). Ebenso die Manager der Schauspieler Nora Tschirner, Lars Eidinger und Sophie Passmann.
Ganz anders nach den „Hetzjagden“
Die „Toten Hosen“ sagten ab, weil sie sich unwohl fühlten, sich in einer Runde zu äußern, ohne die anderen Teilnehmer und deren Statements zu kennen. „Mit dem gleichen Argument kann man jeder Demonstration fernbleiben. Ziviles Engagement wird so unmöglich“, wundert sich Schwilden über die Entgegnung der „Hosen“. Man könnte noch weiter gehen: Streng genommen dürften die Musiker aus diesem Grund nicht einmal zur Wahl gehen. Denn woher wollen sie denn wissen, wer noch alles sein Kreuz an der gleichen Stelle macht? Und mit welchen (dunklen?) Hintergedanken? Die deutsche Fußballnationalmannschaft, der „Entertainer“ Jan Böhmermann und die Feministin Teresa Bücker haben erst gar nicht geantwortet, berichtet Schwilden.
Wie sich die Zeiten ändern. Vor nur fünf Jahren trat eine ganze Parade von Bands auf, um in Chemnitz unter der Parole „Wir sind mehr!“ gegen Rassismus „aufzustehen“. Dabei waren auch „K.I.Z.“, „Kraftklub“ und die „Toten Hosen“. Dass Helene Fischer nicht mitmachen wollte, löste eine wochenlange Kampagne gegen die Schlagersängerin aus, bis sie sich schließlich doch eine Stellungnahme im gewünschten Zungenschlag abringen ließ. Auslöser für das Chemnitzer Konzert war die Nachricht, dass Rechtsextremisten in der Stadt „Hetzjagden auf ausländisch aussehende Personen“ veranstaltet haben sollen. Der Vorwurf an Fischer lautete, dass sich quasi mitschuldig mache, wer angesichts dieser rassistischen Untat schweige.
Der Unterschied zwischen 2018 und 2023: Die „Hetzjagden“ hatte es nie gegeben. Sie waren eine Erfindung des linksextremen Portals „Antifa Zeckenbiss“, welche das Bundeskanzleramt begierig übernahm und als vermeintliche Wahrheit in alle Welt verbreitete. Der Massenmord an Juden im Grenzgebiet zu Gaza dagegen ist eine derart brutale Realität, dass man uns die schlimmsten Bilder nur verpixelt zeigen mochte. Und ins Netz gestellt wurden die Bilder auch nicht von einer obskuren Internetseite, sondern von den Tätern selbst.
Martin Walser hätte wohl noch einen weiteren, entscheidenden Unterschied ausgemacht, der die Lautstärke damals und das dröhnende Schweigen heute im Kern erklärt: Die erfundenen „Hetzjagden“ ließen sich hervorragend ausschlachten, um beliebige politische Gegner anzuschießen, wobei der NS-Verdacht immer mit im Raum stand. Der entsetzliche Judenmord vom 7. Oktober liegt dagegen quer zu allen Instrumentalisierungen im sattsam bekannten Sinne. Also hat man „leider“ gerade keine Zeit.
Ignatz Bubis, 1998 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warf Walser nach dessen Rede in einer ersten Aufwallung „geistige Brandstiftung“ vor. Nach einem persönlichen Gespräch mit dem Schriftsteller unter Vermittlung von Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus Von Dohnanyi nahm er diesen Vorwurf zurück. Er hatte verstanden, was Walser meinte.
Ein Jahr später, zum Ende seiner Amtszeit als Zentralratspräsident und nur einen Monat vor seinem Tod, zog Bubis eine niederschmetternde Bilanz seiner Bemühungen: „Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du es, dass die Menschen anders über einander denken, anders miteinander umgehen. Aber, nein, ich habe fast nichts bewegt.“ Ein Trost, dass Bubis das opportunistische Schweigen der sonst so „engagierten“ Künstler von 2023 nicht auch noch miterleben musste.


