Unter Deutschen gibt es den Begriff Vernunftrepublikaner. Er wurde auf die Beamten und Bildungsbürger angewandt, die sich aus rein sachlichen Erwägungen seit November 1918 unter dem Eindruck der Niederlage und der Ungewissheiten über die Zukunft dazu entschlossen hatten, der überstürzt verkündeten Republik ihre Dienste nicht zu verweigern.
Auf die Loyalität der Eliten, ihre Erfahrung und ihr Berufsethos war die Republik dringend angewiesen. Sie mussten keine Demokraten sein. Auch Sozialdemokraten wie der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert oder Philipp Scheidemann, ein paar Monate lang 1919 Reichsministerpräsident, entschieden sich erst im letzten Moment für die Republik, um das Deutsche Reich vor Unordnung zu bewahren, die mit dem Zusammenbruch eines politischen Systems unvermeidlich verbunden ist. Beide waren – wie viele andere Politiker – keine revolutionären Demokraten etwa in der Tradition der französischen Jakobiner von 1793/94 oder in Nachahmung der russischen Revolutionäre vom Februar 1917. Sie waren im Wortsinne Staatsmänner, sie dachten an Recht und Ordnung, an eine Staatsform, an die Republik, die beides schützt.
Staatsräson contra Leidenschaften
Republiken müssen nicht demokratisch sein, wie die Römische Republik in der Antike, die italienischen oder Schweizer Stadtrepubliken, aber auch die deutschen Reichs- und Hansestädte veranschaulichten. Geordnete Freiheit lässt sich auf die verschiedenste Weise verwirklichen, worüber die europäische Geschichte als eine Geschichte der Freiheit unterrichtet. Demokratie und Republik bedürfen einander nicht, sie können sich aber ergänzen. Die Republik hat es immer, sofern sie sich nicht von ihren Grundlagen entfernt, mit Spielregeln, Institutionen, Recht und der Bereitschaft zu tun, im Mitbürger einen gleichberechtigten Bürger zu achten, selbst wenn er auf Wegen wandelt, die andere für unbequem oder gefährlich halten. Deshalb ist die Repu-blik auf Vernunft sowie deren Gefährten Besonnenheit und Geduld angewiesen, die überall zugegen sein sollten, wo es um gesittete Lebensformen geht, die Voraussetzung jeder Gemeinschaft, die wegen einer viele verpflichtende Vorstellung vom öffentlichen Wohl beisammenbleiben will. Vernunftrepu-blikaner finden sich damit ab, es in einer unvollkommenen Welt aushalten zu müssen mit Zeitgenossen, die alle der Nachsicht bedürfen, um das Leben als Zusammenleben halbwegs erträglich machen zu können.
Unbedingte, also wahrhafte und wehrhafte Demokraten sind dagegen oft von Leidenschaften bewegt, von Glückserwartungen und Wünschbarkeiten, die für sie mit richtigen Gesinnungen zusammenhängen und ihrer Spontaneität und moralischer Aufrichtigkeit. Diese beiden Eigenschaften wecken unweigerlich ein Misstrauen in Institutionen und geregelte Verfahren, die herzlos enthusiastische Aufwallungen an rechtliche Grenzen erinnern, um Normen und Normalität davor zu bewahren, erschüttert und allmählich unverbindlich zu werden. Es gibt daher eine Spannung zwischen enthusiastischen Demokraten und der Republik. Die Republik als Staatsform mit ihrer besonderen Staatsräson war deshalb meist als Einrichtung gedacht, um leicht zu erregende Demokraten, stets neuer Dinge begierig, wie die alten Römer tadelten, unzuverlässig, wie sie sind, vor sich selbst zu schützen.
Die römische Republik mit ihrer Mischung aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen bewahrte lange Zeit das römische Volk vor Unordnung und Tumult. Die Väter der amerikanischen Verfassung mit ihren umständlichen Mechanismen und der Autorität des Präsidenten als eines fast absoluten Monarchen auf Zeit verfolgten ähnliche, „klassische“ Absichten. Heute verstehen sich die USA jedoch als Missionare der Demokratie, um möglichst die ganze Welt zu demokratisieren und die Menschen endlich zum wahren Menschen zu erziehen, also zum begeisterten Demokraten, der zum Ausdruck des „WIR“ wird, der von allen Übeln erlösten Menschheit, die in der planetarischen Weltdemokratie an das Ziel ihrer Geschichte gelangt ist. Dazu gibt es keine Alternative, und wo keine Alternativen mehr möglich sind, hört die Geschichte, das Werden aus dem Gewordenen, auf.
„Menschen“ statt „Bürger“
Von der Republik ist heute kaum noch die Rede. Obwohl der deutsche Staat immer noch Bundesrepublik heißt, an die französische oder österreichische Republik grenzt, werden ununterbrochen die Demokratie und die notwendige Gemeinsamkeit der Demokraten und deren demokratische Wertegemeinschaft beschworen. Ganz bewusst, denn die Repu-blik erinnert an den Staat, an das Staatsvolk, an das Staatsgebiet mit seinen Staatsbürgern und an den Rechtsstaat, an Besonderheiten, die sich von anderen Staaten unterscheiden.
Demokraten kennen keine Bürger mehr, sondern nur noch Menschen überall und hier in diesem Lande. Freier Bürger in einem Staat zu sein, der als Rechtsstaat deren Freiheiten, auch die Freiheit vor staatlicher Willkür, garantierte, erfüllte einmal Republikaner mit Stolz und Zufriedenheit. Mittlerweile gelten Staat und Staatsbürger als Überreste partikularen Eigensinns, die überwunden werden müssen. Alle Menschen sind gleich und empfangen unter den Bedingungen gleicher Lebensverhältnisse, die auch ein gleiches Denken voraussetzen, die gleiche Chance, ihrer Bestimmung gerecht werden zu können: in der alle vereinigenden Mitmenschlichkeit als Mitmensch mitzuschwingen.
Doch die allgemeine Menschheitsdemokratie gibt es nicht. In der Hoffnung auf sie, in der sich beschleunigenden „Menschwerdung“ unverwechselbarer Demokraten, regen sich Erwartungen, die einst von konsequenten Demokraten – den Jakobinern während der Französischen Revolution 1793/94 – entworfen und durchgesetzt werden sollten. Die neue Welt in der immer neuen Demokratie ist auf Menschen angewiesen, die alle von der gleichen Gesinnung erfüllt sind, die als höchst reizbares demokratisches Bewusstsein noch nicht bei allen ausgeprägt vorhanden ist. Diese tugendhafte Gesinnung ist die Substanz und zugleich die höchste Kontrollinstanz, sie muss über erzieherische Maßnahmen jedem mitgeteilt werden, um ihn von eigennützigen Absichten und Vorurteilen zu befreien und in den Stand der Gnade zu versetzen, in dem er davor gefeit ist, von „Verschwörern“, „Lügnern“, „Verfassungsfeinden“, „Antidemokraten“ und „Heuchlern“ – von Kräften also, die alle danach trachten, „unsere“ Demokratie zu destabilisieren – verführt zu werden.
Kultur der Gesinnung und des Verdachts
Diese demokratisch-tugendhafte Gesinnung folgt einem ganz einfachen Prinzip. Sie unterscheidet nur solche, die in der Gesinnung stehen, und solche, die sie nicht teilen. Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. „Es herrscht somit der Verdacht: die Tugend aber, sobald sie verdächtig wird, ist schon verurteilt.“ So resümierte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel die während der Französischen Revolution zutage getretene Spannung zwischen der konstitutionellen Republik mit ihrer praktischen Vernunft und einer revolutionären demokratischen Tugend. Sie will über allen Institutionen und Regeln stehen und den ganzen Menschen demokratisierend erfassen, damit er lernt, immer wachsam zu bleiben, nichts zu überhören oder zu übersehen, um sofort Behörden zu veranlassen, unverzüglich einzugreifen und Schädlinge daran zu hindern, weiterhin ihr Unwesen zu treiben, mit ihren Parteien Verwirrung zu stiften und Zweifel an der Regierung des Wohlfahrtsausschusses auszustreuen.
Diese Tugend als vollständig politisierte Moral kennt keine Schranken. Es gibt keine Trennung von privat und politisch. Die moralisierte politische Tugend ist angewiesen auf Öffentlichkeitsarbeiter, die unnachgiebig auf alle Entwicklungen achten, die öffentliche, demokratische Sauberkeit scharf im Blick, um die Menschen hier in diesem Lande vor Schmutz und unlautereren Gedanken zu bewahren. Der entschlossene Wächter und Orientierungshelfer kennt nur Freund und Feind. Die gelebte Demokratie der Gesinnungstüchtigen braucht solche guten Geister, die sich unermüdlich damit beschäftigen, Verrat und undemokratisches Verhalten aufzuspüren, um als zivilgesellschaftliche Sinnstifter allen möglichen Anfängen unverzüglich zu wehren. Sie allein wissen, welche Werte der Demokratie als abstrakter Denkfigur zu ihrem konkreten Leben verhelfen, sodass sie zu „unserer Demokratie“ wird, in der „wir“ fähig sind, die Geister zu unterscheiden und die Ungeister als Feinde aus der Wertegemeinschaft der Gesinnungstüchtigen zu entfernen.
Mahnung vor falscher Sakralisierung
Für die richtende und strafende Tugend mit ihren Werten ist jeder Einsatz erlaubt. Regeln und Gesetze, der Zeit verhaftete Übereinkünfte, dürfen nicht den der Zeit entrückten, ewigen Werten bei ihrer Entfaltung im Wege stehen. Zivilgesellschaftliche Gruppen können deshalb nicht nachlassen, die Regierung zu mahnen, unter keinen Umständen von ihrer gebotenen Strenge zuweilen absehen zu wollen und nicht jederzeit voll ihre Vollmachten auszuschöpfen, mit Verordnung für die erwünschte Ordnung zu sorgen.
Die Schreckensherrschaft totalitärer Demokraten ist Geschichte. Doch sie kann uns heute als Warnung dienen bei dem Tugendeifer wehrhafter Demokraten, „unsere“ Demokratie zur Werte- und Erlösungsgemeinschaft zu sakralisieren. Der republikanische Rechtsstaat und seine Institutionen brauchen Staatsbürger und nicht sogenannte Menschen und Demokraten als deren prophetische Heilkundige. Die freiheitliche Grundordnung und Rechtsordnung werden nicht durch von wertefühlenden demokratischen Feinschmeckern bewirkten Gemütsaufwallungen und am allerwenigsten durch die Lärmtrompeten medialer Chefdramaturgen gesichert, sondern allein durch das Recht.
Diese Voraussetzung einer demokratisch organisierten Rechtsordnung gerät allmählich überall in Vergessenheit, nicht zuletzt zum Schaden der Demokratie. Diese braucht Vernunftrepublikaner, die Demokraten davor bewahren, ihre „Tugend“, ihre Werte höher zu schätzen als den Rechtsstaat. Demokraten können die Republik verraten, was seit 1793 schon mehrfach vorgekommen ist.
Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören „Zur Tyrannei der Werte“ (2010), „Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert“ 2012) sowie „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas“ (2014, jeweils bei Klett-Cotta). www.eberhard-straub.de


