Anders als nach dem Ersten Weltkrieg hat Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg begriffen, dass man Schuld am Scheitern besser bei sich selbst als bei anderen sucht. Solches Aufarbeiten von Vergangenem hat unserem Land gutgetan. Doch bei der CDU-Führung wartet man auf jene Einsicht weiterhin, trotz inzwischen großer Wählerverluste. Man versteht auch den Grund: Es fällt schwer, dasjenige als irregeleitet einzugestehen, was man selbst mit voller Überzeugung ehedem vertrat. Noch schmerzlicher ist es, einst umjubelte Führungsleute für an jenen Übeln ursächlich zu erklären, an denen man nun leidet.
Natürlich ist die Rede von Angela Merkel und ihren Paladinen. Es ist nämlich deren Politik, welche die Union derzeit nur von Fehlern der Konkurrenz profitieren, doch nicht wieder zu eigener Stärke gelangen lässt. Warum aber verhält sich die – vielfach gewarnte – CDU-Führung seit vielen Jahren so trotzblind wie ein illusionsfixierter Pubertierender? Weil sie, ebenso geschmeichelt wie schlecht beraten, seit Angela Merkels Beinahe-Scheitern von 2005 gegen Gerhard Schröder genau jenem Zeitgeist folgte, der in grünen Politikzielen den letzten Schluss politischer Weisheit zu erkennen glaubt.
Zwar machten sich schon die Sozialdemokraten nach Helmut Schmidts Regierungszeit jenen grünen Pazifismus zu eigen, der bis zu Putins Angriff auf die Ukraine höchst modisch war. Doch Angela Merkel rundete ihn politisch ab durch die Nutzung der Bundeswehr für Einsparungen im Bundeshaushalt. Dann irrlichterte die CDU-Kanzlerin bei der Nutzung der Kernenergie: Kaum war von ihr die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert, verkündete sie – mehr aus Angst vor einem demoskopischen als vor einem wirklichen Tsunami – für diese jenes Aus, das die Grünen seit ihren Anfängen gefordert hatten. Obendrein verwirklichte gerade die CDU grüne und sozialdemokratische Wünsche nach einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland, indem sie mehrheitlich die selbstermächtigte Zuwanderung als politisch nicht einzuschränkendes Menschenrecht und die Kritiker als verblendete Rassisten ausgab. Und ja, dass der Islam zu Deutschland gehöre, verkündete zum Wohlgefallen der Grünen ein von Angela Merkel ausersehener Bundespräsident – und dass der Islamismus gar nichts mit dem Islam zu tun hätte, erklärte die Kanzlerin gleich selbst.
Zerplatzte Illusionsblasen
Nun aber erweist sich jene schöne neue Welt als doch nicht ganz so schön, wie das einst in Aussicht gestellt, geglaubt und bejubelt wurde. Viele Illusionsblasen platzen gerade an der rauen Wirklichkeit. Zwar bekommen, seit die CDU bundespolitisch aus dem Rennen ist, vor allem SPD und FDP den Bevölkerungszorn über die brechstangenartige Durchsetzung grüner und woker Ziele ab. Doch viele im Land haben nicht vergessen, dass die „Ampel“ im Grunde nur das fortzusetzen versucht, was – unter medial verstärktem rot-grünen Druck – bereits die CDU-Kanzlerin auf den Weg brachte.
Die war, wie ein Großteil ihrer Partei, ständiger Angriffe von selbsterklärt Fortschrittlichen müde. Und weil es wirklich keine Freude macht, als rückwärtsgewandt-muffig dargestellt zu werden, begann Angela Merkel eine große Frontbegradigung. Indem sie demoskopisch als wirkungsvoll nachgewiesene Argumente von SPD und Grünen selbst zu vertreten begann, schnürte sie den Sozialdemokraten nach und nach die politische Luft ab und hoffte auf die Grünen als Nachfolger jener FDP, mit der die Union jahrzehntelang gut und gerne regiert hatte. Etliche erfolgreiche Wahlen gaben dieser Strategie recht. Doch wer – wie Deutschlands Armee im Ersten Weltkrieg – strategisch nach links schwenkt, sollte eben auch den rechten Flügel stark und im Gefechtsverband der Truppe halten.
Das aber ignorierten die Merkelianer lustvoll. Genau in der Mitte wartete der größte Teil der Wählerschaft darauf, von einer sozialen, liberalen und ökologischen Union abgeholt zu werden. Ihretwegen müsse man die Konservativen in der Partei kleinhalten. Außerhalb der Union hätten die ohnehin keine Alternative zum Wahlkreuz bei der CDU – insbesondere dann nicht, wenn man die Gleichsetzung von „konservativ“ und „rechts“ mitsamt der Ansicht zur Selbstverständlichkeit mache, dass „rechts“ keine hinnehmbare Meinungshaltung, sondern ein rassistisch-faschistischer Einstellungskomplex wäre. Da aber müsse man, geschichtlich belehrt, schon den Anfängen wehren. Deutschlands Linke, ohnehin viel mehr mit Angela Merkel als mit ihrer Partei sympathisierend, stellte dafür gern die Hilfstruppen.
Die Alternative rechts von der Union
Als Nebenwirkung entsprechender „Shitstorms“ und Ausgrenzungen kam es dann so, dass zur Rechten der Union die AfD als starke, im Osten gar stärkste und gewiss nicht mehr von selbst vergehende Partei aufwuchs. Durchaus hätte sich das verhindern lassen, wenn Merkels Regierung nicht die Haftungsrisiken Deutschlands in der Eurozone leichtfertig heruntergespielt und die CDU nicht viele einst erfolgreiche Positionen in der Migrations- und Energiepolitik zugunsten der AfD geräumt hätte. CDU-schädigend war auch, dass man nicht einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der AfD den Vorzug gab vor jener billigen Beschimpferei, welche die AfD ja nicht geschwächt, sondern – auch dank vielerlei Solidarisierung gegen unfaire Wettbewerbspraxen – nur gestärkt hat. Erst eigene Fehler begehen, dann die Kritik nicht ernstnehmen und alsbald die Kritiker ausgrenzen: Das wies den Weg nach unten.
Ganz zum eigenen Nachteil wurde die CDU zu einer Partei nur noch der Mitte, nicht aber auch von Leuten, die rechts der Mitte stehen. Deshalb schwächelnd, wird die Union immer wieder in Koalitionen gezwungen, die sich ihr einst aus Gründen der Selbstachtung verboten hätten. In Stuttgart dient sie, nach jahrelanger personalpolitischer Selbstdemontage, als Juniorpartner der Grünen; und in Sachsen ist sie von einer bestimmenden politischen Kraft zum Hündchen geworden, mit dem der grüne Schwanz wedelt. So wird es auch bleiben, solange man die Ursachen solchen Abstiegs nicht bei sich selbst sucht und dann abstellt.
Schwierige Neubesinnung
Doch immer noch sind CDU-Fortschritte auf dem Weg zur Neubesinnung mit dem Millimeterband zu messen. Erst drei Jahre nach ihrer migrationspolitischen Wende merkte die fast allmächtige Parteivorsitzende Merkel, dass die Reize ihrer Politik gerade bei bisherigen CDU-Wählern immer weniger verfingen. Alsbald wählten viele lieber das grüne Original als Unionskarrieristen im grünen Tarnfleck. Jedenfalls gab Angela Merkel den Parteivorsitz auf, als ihre Partei 2018 bei den hessischen Landtagswahlen von
38 Prozent auf 27 Prozent abgestürzt war. Weiterhin vom Kanzleramt aus herrschend, konnte sie den CDU-Tanker dennoch auf jenem kräfteschonenden Kurs halten, der grünen und woken politischen Strömungen folgt. Die beobachtete sie mit großer demoskopischer Sorgfalt und formte sie zugleich mit, indem sie beim Bewerben ihrer Politik mit populären und mächtigen Journalisten zusammenwirkte. Weil diese ohnehin die grüne Agenda schätzten, fuhr Angela Merkel damit gut bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft. Doch seither verblasst ihr Ruhm.
Derweil kamen und gingen zwei merkelgefällige Parteivorsitzende aus weichem Holz. Den jetzigen brachte, nach zwei Niederlagen auf Parteitagen, erst die Basis ins Amt. Dafür hatten vor allem die Konservativen in der CDU getrommelt. Anschließend brüskierte er lieber seine Unterstützer, als dass er mit jenen den Richtungsstreit gesucht hätte, welche die CDU auf den demoskopischen Weg nach unten geführt hatten. Sich vor aus den eigenen Reihen bescherten Niederlagen zu fürchten, hat Friedrich Merz nämlich gelernt. Und so kauert bis heute die CDU kraftlos vor einer Schlange namens AfD, ganz ideenlos ob einer anderen Angriffsstrategie als der so offenkundig gescheiterten.
Wer die Positionen von Grünen und AfD zur Migrationspolitik, zur Energiepolitik und zum eigenen Land vergleicht, der merkt im Übrigen, dass die AfD – wie viel Rechtsradikalismus und Rassismus auch immer unter ihren Mitgliedern gären mag – in erster Linie die politisch-populäre Antwort auf Deutschlands Reise in grüne Illusionsgefilde ist. Die aber führte niemand anderes als die ehemalige CDU-Kanzlerin an. Seit allerdings die Grünen eher als Zerstörer deutschen Wohlstands denn als die Schöpfer eines international vorbildlichen Landes wahrgenommen werden, rettet sich vor ihnen, wer kann. Ob eine Flucht vor der Unpopularität und Gestrigkeit der Grünen nach Hessenart (hier beschloss die CDU soeben, nach zehn Jahren gemeinsamer Koalition mit den Grünen künftig eine Koalition mit der SPD einzugehen) die Union aber wirklich davor bewahren wird, nur noch als das im Vergleich zur AfD geringere Übel zu gelten?
Vermutlich nicht. Denn was sind die Folgen von Merkels langer Regierungszeit? Eine Zuwanderung ohne Integration, mit der – neben wachsender Kriminalität – muslimischer Antisemitismus ins Land kam. Eine Energiepolitik, die Deutschlands Strompreise zu den höchsten in Europa macht und nun viele Politiker auf die schiefe Ebene von Dauersubventionen für politisch ruinierte Unternehmen lockt. Eine Sicherheitspolitik, mit der Deutschland das revisionistische Russland nicht etwa abschreckte, sondern sich von ihm energiepolitisch abhängig machte. Und ein Sozialstaat, dessen Kosten durch Überlastung bei schrumpfender Wirtschaftskraft aus dem Ruder laufen.
Eine andere Politik wäre möglich
Wie findet man da wieder heraus? Mit der taktischen Flexibilität von Minderheitsregierungen? Dank Schaffung einer Mehrheit aus Mitte und rechter Mitte? Dafür müsste die AfD sich aber einen Großteil ihrer Rhetorik abschminken, verrannte Positionen aufgeben und solche Leute vom Spielfeld in die Kabine schicken, mit denen zusammenzuwirken der Union nicht zuzumuten ist. Doch bislang findet sich kein Weg, Deutschlands inzwischen klar nicht-linke Wählermehrheit in ebenso nicht-linke Parlamentsmehrheiten umzusetzen. Nur dann aber ließe sich Politik wieder als respektable Mehrheitspolitik betreiben – und nicht länger als ein Erziehungsprojekt von Minderheiten.
Welche Chancen böten sich der Union, wenn sie sich denn politisch traute! Doch vermutlich hat die CDU-Führung in dieser Sache weniger ein Erkenntnisproblem als vielmehr Umsetzungsschwierigkeiten. Die Vergangenheit zu bewältigen, ist nun einmal schwer – auch für die CDU.
Prof. Dr. Werner J. Patzelt war von 1991 bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Er ist Forschungsdirektor am Mathias Corvinus Collegium (MCC) Brüssel.


