Zu Fuß? Allein?“ – „Zu Fuß. Allein!“. Dieses Frage- und Antwortspiel zieht sich wie ein roter Faden durch Christiane Hoffmanns Buch „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“. Hoffmann ist die Tochter zweier Flüchtlingskinder, der Vater stammte aus Schlesien, die Mutter aus Ostpreußen. Die Journalistin arbeitete 20 Jahre lang für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, sie war stellvertretende Leiterin im Hauptstadtbüro des „Spiegel“, und seit 2022 ist sie erste stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung.
Nach dem Tod des Vaters, der trotz seiner langjährigen Krankheit für die Tochter unerwartet und zu früh kam – zu viele Fragen waren nicht gestellt, zu wenige Antworten gegeben worden – entschließt Hoffmann sich dazu, den Fluchtweg des Vaters zu Fuß abzulaufen.
Im Januar 1945 musste die Familie ihr niederschlesisches Heimatdorf Rosenthal vor der anrückenden russischen Armee verlassen. Die verlorene Heimat bleibt in der Familie gegenwärtig und auch wieder nicht, weil über vieles nicht gesprochen wird. Wichtiger ist es vor allem dem Vater, sich in der neuen Heimat im schleswig-holsteinischen Wedel zu integrieren. Er gibt sich stets fröhlich. Und doch bleibt Rosenthal ein Thema, wovon auch die zahlreichen Besuche in der heute polnischen Heimat zeugen. Zum ersten Mal reist die Autorin als Kind mit ihren Eltern nach Schlesien. Sie spürt die gleichzeitige Freude und Enttäuschung der Erwachsenen. Von den heutigen Bewohnern werden sie freundlich empfangen. Obwohl es möglich ist, in die Heimat zu reisen, heilt das den erlittenen Verlust nicht.
Dass Kriegstraumata vererbt werden können, ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen. Auch Hoffmann spürte stets etwas von diesem Trauma in sich. Um es besser verstehen und verarbeiten zu können, nahm sie 75 Jahre nach Kriegsende den mehr als 500 Kilometer langen Fluchtweg von Rosenthal bis nach Klinghart im Egerland auf sich und übernachtete an den jeweiligen Zwischenstationen der Flüchtlinge von damals. Unterwegs traf sie nur vereinzelt auf Menschen, die sich noch an die Vertriebenen erinnern. Allein auf endlosen Landstraßen sinnierte sie über Vergangenheit und Gegenwart.
Es ist ein sehr persönliches Buch und in einer literarischen Sprache geschrieben. Häufige Perspektivenwechsel und Gedankensprünge sowie verwobene Handlungsstränge erschweren zuweilen den Lesefluss. Ob die Autorin die gewünschten Antworten auf ihre Fragen gefunden hat, bleibt offen.
Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“, dtv Verlag, München 2023, Taschenbuch, 275 Seiten, 15 Euro


